Kulturtransfer durch Schwabenkinder
Jahrhundertelang mussten sich alljährlich Tausende von Kindern bei Schnee, Heimweh und Hunger zu Fuß über die Alpen quälen, um bei oberschwäbischen Großbauern vor allem als Hütekinder zu arbeiten. Die existenzielle Not zu Hause in Tirol, Vorarlberg und Graubünden zwang die Eltern dazu, wenigstens zwei bis drei von vielleicht sieben bis zwölf Kindern nach »draußen« zu schicken. Schätzungen gehen von rund 4.000 Kindern jährlich aus. 2007 ist »zwiefach«-Autor Wulf Wager den 240 Kilometer langen Weg von Ravensburg nach Schluderns selbst zu Fuß gegangen, um Spuren der Schwabenkinder zu suchen. Er fand fast nichts. Und dennoch haben sich die beiden Kulturen Schwabens und Tirol in vielfältiger Weise gegenseitig beeinflusst – in Tracht, Lied, Tanz und Bräuchen. Das zumindest ergaben seine Recherchen.
Text: Wulf Wager Fotos: Wulf Wager
Seit dem 17. Jahrhundert wurden Kinder aus armen, kinderreichen Bergbauernfamilien Tirols, Graubündens und des Bregenzer Waldes über die Alpen nach Oberschwaben und ins Allgäu geschickt, um dort bei reichen Bauern zu dienen. Elmar Bereuters Buch Die Schwabenkinder und der darauf beruhende gleichnamige Film mit Tobias Moretti und Vadim Glowna aus dem Jahr 2003 machten auf das schlimme Schicksal dieser Kinder aufmerksam. Dreh- und Angelpunkt war der Sklavenmarkt in Ravensburg, auf dem die 6- bis 17-jährigen Buben und Mädchen als Saisonarbeiter noch bis 1920 vermittelt wurden.
Eine frühe Erwähnung des Kindermarkts in der Ravensburger Bachstraße finden wir im Correspondenzblatt des Württembergischen Landwirtschaftlichen Vereins 1829: »Ein besonderes Interesse gewährt auch der jedes Frühjahr in Ravensburg stattfindende Markt mit Tyroler und Schweizer Kindern, die daselbst angekommen, um sich an Bauern der dortigen Gegend als Treib- und Hirtenbuben und als Kindsmägde zu verdingen.«
In ihrer Heimat bezeichnete man diese armen Geschöpfe als Schwabenkinder oder Schwabengänger. Die Buben wurden außer zum Viehhüten auch zur Stallarbeit und bei der Ernte eingesetzt, während die Mädchen im Haushalt helfen und auf die kleineren Kinder ihrer Dienstgeber aufpassen mussten. Im Frühjahr, Mitte März, machten sie sich in geführten Gruppen auf den Weg nach Ravensburg. Zu Martini (11. November) durften sie mit ein klein wenig Lohn in der Tasche, aber neu eingekleidet wieder nach Hause. Das blieb nicht ohne Folgen. Denn vereinbart wurde als Lohn »dopplet’s Häs«, also zweifache Kleidung. Eine Garnitur für den Sonntag und eine Garnitur für den Alltag. Kein Wunder also, dass es hier Ähnlichkeiten in den Trachten gab.
(Bild: Zwei Bündner Schwabenkinder, die sich als Hütbuben verdingten, mit Hut, Weste, Uhr und Kette, 1907. [Quelle: Rätisches Museum, Chur])