Der Waldschmidt und der Trachtenumzug
Was ein Oberpfälzer mit der Wiesn und dem richtigen Gwand dafür zu tun hat.
Ohne Oberpfälzer wäre die Wiesn nicht, was sie heute ist. Damit sind nicht nur die vielen Oberpfälzer Musikgruppen, Kapellen und Partybands gemeint, die Oide wie neue Wiesn Jahr für Jahr beschallen. Damit sind auch nicht die vielen Trachtenvereine gemeint, die den Festzug bunter machen. Der Oberpfälzer Einfluss findet sich auch bei der Frage nach dem richtigen Gwand.
Text: Florian Schwemin Fotos: Bayerisches Nationalmuseum München
Das Thema Wiesntracht ist in aller Munde. Für viele gehört ein »ordentliches Gwand« zum sinnlichen Erlebnis Oktoberfest genauso dazu wie Bier, Hendl und gebrannte Mandeln. Die Geister scheiden sich nicht nur an der grundlegenden Frage, ob es denn überhaupt Tracht sein muss, sondern vor allem an Qualität und Ausführung derselbigen. Wie lang bzw. kurz darf der Rock eigentlich sein? Welche Farben, Stoffe und Muster sind erlaubt? Auf welcher Seite wird die Schürze gebunden? Welches Schuhwerk darf getragen werden? Der Unterschied zwischen Festkleidung und Verkleidung ist individuell und fließend.
Den Beginn des Phänomens Wiesntracht als Massenphänomen datiert die Kulturwissenschaftlerin Dr. Simone Egger auf die Jahre um die Jahrtausendwende. Bis in die 1970er-Jahre war festliche Kleidung – also Anzug und Krawatte beziehungsweise modische Kleider –, seit den 1970er-Jahren vermehrt Alltagskleidung für den Gang auf die Wiesn angesagt.
Sicher gab es immer vereinzelte Trachtenträger unter den vielen Besuchern, nicht zuletzt die Schankkellnerinnen und -kellner stellen hier eine Konstante dar. Trachten gehören aber schon seit mindestens 1895 zum festen Rahmenprogramm der Wiesn. Die Kulturreferentin des Landratsamtes Cham, Dr. Bärbel Kleindorfer-Marx, hat sich intensiv mit dem Volkstrachten-Festzug von 1895 beschäftigt und Erstaunliches zutage gefördert. Dieser prägt nämlich bis heute das Bild von Bayern allgemein und der Wiesn im Speziellen.
Wie kam es überhaupt zu dem Trachten-Festzug von 1895, der heute bisweilen als Ursprung des seit 1950 jährlich stattfindenden Trachten- und Schützenzuges gesehen wird?
Eine Komponente war mit Sicherheit die Trachtenbegeisterung der Wittelsbacher. Schon 1835 und 1842 fanden große Trachtenumzüge statt. Und auch allgemein gehörte die Tracht und deren Pflege zum Herrschaftsprogramm des Königshauses, das sich so eine Festigung der Identität des relativ jungen Zusammenschlusses von Altbayern, Franken und Schwaben erhoffte. Besonders volksnah zeigte sich Prinzregent Luitpold von Bayern (1821 – 1912), der ein besonderes Faible für die Jagd, das Bergsteigen und die Landwirtschaft entwickelte.
Hier kommt nun der Oberpfälzer Maximilian Schmidt ins Spiel. Der 1832 nahe der böhmischen Grenze in Eschlkam geborene Schriftsteller hatte früh das Thema Heimat für sich entdeckt. In zahlreichen Romanen und Bühnenstücken nutzte er den Bayerischen Wald als Kulisse für seine Heimatromane. Damit traf er auch den Nerv der Wittelsbacher und wurde 1884 zum Hofrat ernannt. Seine Heimatbegeisterung folgte durchaus auch wirtschaftlichen Interessen. So rief er 1890 den Bayerischen Landesverband zur Förderung des Fremdenverkehrs ins Leben, der zur Förderung des Tourismus in Bayern, vor allem im Bayerischen Wald beitragen sollte. Tracht wurde hier ganz deutlich als wirksames Marketinginstrument platziert. Bayern sollte zur Marke werden. Heute würde man von Place Branding sprechen. Für seine Verdienste um die Heimat sollte er in den Adelsstand erhoben werden, was er aber ablehnte. Stattdessen wurde ihm der erbliche Namenszusatz »genannt Waldschmidt« verliehen.
Die Suche nach dem richtigen Gwand
Die Idee zu einem Volkstrachten-Fest mit Umzug trug Maximilian Schmidt schon länger mit sich herum. 1884 hatte er bereits eines zum 20-jährigen Regierungsjubiläum Ludwigs II. vorgeschlagen, das aber unter anderem am Widerstand des Stadtmagistrats scheiterte. Als sich im Frühjahr 1895 erneut ein privat initiiertes Komitee mit der Idee eines Trachtenumzugs zum Oktoberfest beschäftigte und Waldschmidt sein Konzept von 1884 vorlegte, wurde er als erster Vorstand mit der Durchführung des Festes betraut.
In seiner Autobiografie berichtet Schmidt über die mühselige Arbeit im Vorfeld des Festes: So reiste er »fünfzig Tage im Königreich umher, die längst vergessenen Volkstrachten ausfindig zu machen, die Leute zur Beteiligung aufzueifern«. Doch so einfach gestaltete sich beides nicht, »manchmal musste man die Teile eines einzigen Anzugs in einem halbdutzend Gemeinden zusammensuchen«. Schmidt bewegte sich hier auf einem schmalen Grat zwischen Fund und Erfindung. Die Zeitgenossen, die Schmidt um Zusendung von Kontakten und Bericht über örtliche Trachten gebeten hatte, schrieben jedenfalls meist eine Fehlanzeige zurück. Die Landbevölkerung kleidete sich praktisch und – wo es die finanziellen Mittel erlaubten – modisch. Trachten, wie Schmidt sie sich vorstellte, waren kaum vorhanden. Und allein deshalb musste Schmidt nehmen, was sich finden ließ, selbst wenn das Bild dadurch teils sehr bunt wurde. Auch Zeitgenossen kritisierten bisweilen die willkürliche Zusammenstellung der Kostüme, die mehr Verkleidung als Tracht seien. Allerdings zeigen die Fotografien ein Bild von Tracht, das im Laufe des 20. Jahrhunderts so nicht mehr zu finden ist: Tracht ist hier noch keine Uniform. Nur einige oberbayerische Gruppen, wo sich zu dieser Zeit die Gebirgstrachten-Erhaltungsvereine gegründet hatten, kamen in Vereinstracht. Die anderen Gruppen zeigten sich in individuellen, vielfältigen und dennoch regionalen Trachten.
Auch bei der Rekrutierung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer lief nicht alles problemlos. Schmidt brauchte nicht selten seine »ganze Ueberredungskunst, die Leute zu bestimmen, sich in den alten historischen Kostümen ihrer Ahnen zu zeigen, da sie fürchteten, ausgelacht und verspottet zu werden«. Ein Schicksal, das heutzutage eher diejenigen fürchten, die ohne Tracht auf der Wiesn erscheinen. Aus den Aufzeichnungen Schmidts wird deutlich, dass die gezeigten Trachten vor allem dem bildungsbürgerlichen, städtischen Ideal von Tracht entsprachen. Die Stücke wurden teils sogar extra nach historischem Vorbild geschneidert.
Trotz aller Umstände stellte Maximilian Schmidt nicht nur einen respektablen Trachtenzug mit 120 bis 150 Gruppen aus 1.000 bis 1.500 Teilnehmern auf die Beine. Der von zahlreichen Musikkapellen begleitete Umzug war eingebettet in ein dreitägiges Historisch-Bayerisches Volkstrachten-Fest mit einem Festspiel, einer »Darstellung der Sitten, Bräuche, Volksgesänge und Volkstänze« und weiteren Veranstaltungen im 5.000 Zuschauer fassenden Münchner-Kindl-Keller. Dazwischen traten einige der Gruppen dann sogar im Circus Bavaria mit Tanz und Musik auf.
Die Motive der Veranstalter und Teilnehmenden waren mehr als vielfältig. Vom patriotischen Bayern über den berechnenden Tourismusstrategen zum germanentümelnden völkischen Ideologen, von volkskundlich-akademisch Interessierten zu feierfreudigen Trachtlern, jeder hatte seine eigenen Ideen und Motive. Auch heute haben Trachtenträgerinnen und -träger auf der Wiesn ihre individuellen Vorstellungen, und auch heute reichen diese von der kostümhaften Verkleidung bis zum Ausdruck regionaler Identität.
Zwischen Waldschmidts Volkstrachten-Fest und dem Trend zur Wiesntracht liegen gut hundert Jahre. Die Bilder, die das Trachtenfest geschaffen hat, wirken aber bis heute fort.