Oide Wiesn Spezial - Ein Rückblick Teil I (aus zwiefach 05/2018)

Faszination Wiesn – heute wie damals

Jedes Jahr Ende September wird die Theresienwiese in München zum Austragungsort des größten deutschen Volksfests, das nicht nur Einheimische, sondern auch zahlreiche Bürger aus dem Ausland anzieht. Etwa 5,5 Millionen Besucher feiern in mehr als 30 Zelten, erfreuen sich an Fahrgeschäften oder flanieren entlang der Buden über den Platz. Ein besonderes Schmankerl für Nostalgiefreunde und Liebhaber des bayerischen Brauchtums ist seit 2010 die Oide Wiesn auf dem Südteil der Theresienwiese.

Text & Bilder: Anita Fürst

Eine einmalige Aktion für ein einmaliges Ereignis hätte es werden sollen: das Rahmenprogramm für die Hochzeit des bayerischen Kronprinzenpaares im Jahr 1810. Als Ludwig I. am Abend des 12. Oktober in der Münchner Residenz Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen heiratete, sollte auch das Volk an den Feierlichkeiten teilhaben können. Und so fanden in der Residenzstadt zahlreiche öffentliche Vergnügungsveranstaltungen statt, darunter ein Pferderennen als besonderer Akt der Huldigung an das frisch vermählte Paar. Der Organisator des Rennens: Andreas Michael Dall’Armi, ein aus Trient stammender Bankier und Major der Kavallerie bei der königlichen Nationalgarde. Das Pferderennen wurde zum rauschenden Ereignis und Dall’Armis Idee zu einer Erfolgsgeschichte, die mit Unterbrechungen in den Kriegsjahren seit über 200 Jahren anhält und sich in ihrer Faszination als äußerst beständig erweist.

Das Pferderennen war es im Übrigen, das dem heutigen Oktoberfest seine Form gab: Die feste Anordnung von ovaler Rennbahn, Königszelt, Zuschauertribünen und Wirtsbuden wurde spätestens 1888 durch ein Bebauungsverbot sichergestellt. Die heutige Wiesn wurzelt somit in eben jenem Rennen von 1810, da solche Rennen sowohl im höfischen als auch im ländlichen Bereich praktiziert wurden und die adelige und bäuerliche Gesellschaft damit in gewisser Weise miteinander verbanden. Amüsement kennt eben keine Schichten …

Bayerisches Eigenbild: »Wer ko, der ko!«

Die heute oft als Selbstverständnis bayerischen Lebensgefühls gebrauchte Redewendung »Wer ko, der ko!« geht laut einer Anekdote indirekt auf das Oktoberfest zurück. Es hat sich wohl so zugetragen, dass Franz Xaver Krenkl (1780 – 1860), ein Pferdezüchter, Lohnkutscher und regelmäßiger Teilnehmer der Pferderennen auf dem Oktoberfest, eines Tages den König während einer Spazierfahrt überholte. Ein Fauxpas sondergleichen. Krenkl besaß – im wahrsten Sinne des Wortes – mehr Pferdestärken als König Ludwig I., der sich aus Sparsamkeitsgründen für seine Freizeit nur »leichte« Pferde gönnte. Als Krenkl mit seinem Sechsspänner die königliche Kutsche überholte, rief ihm der König zu: »Weiß er nicht, dass das Vorfahren verboten ist?« Ohne den Hauch majestätischer Ehrfurcht erwiderte Krenkl schneidig: »Wer ko, der ko!« Der saloppe Spruch sollte jedoch als Bumerang zurückkommen …

Gerade als Krenkl beim nächsten Oktoberfest die Rennbahn verlassen wollte, blockierten die Wagen des Königs den Weg und Krenkl musste notgedrungen warten. In diesem Moment fuhr Ludwig I. vorbei und winkte dem Pferdezüchter zu: »Krenkl, wer kann, der kann!«

Das Zentrallandwirtschaftsfest

Die Pferderennen auf dem Oktoberfest hatten jedoch keinesfalls nur Unterhaltungscharakter. Dahinter steckten auch wirtschaftliche Interessen, die in Form von Viehausstellungen, Viehmärkten und Prämierungen von Zuchttieren zufriedengestellt wurden. Anfangs waren Zentrallandwirtschaftsfest und Oktoberfest noch enger miteinander verzahnt, doch schon bald übernahm die Organisation des Festes der Landwirtschaftliche Verein in Bayern bzw. seit 1949 der Bayerische Bauernverband. Das Zentrallandwirtschaftsfest war auch ein Absatzmarkt für Waren, deren Grundstoff aus landwirtschaftlicher Produktion (z. B. in Bayern hergestellte Seide, Strohhüte usw.) stammte. Mit zunehmender Technisierung folgten auch Ausstellungen und Vorführungen von landwirtschaftlichen Geräten und Maschinen. Noch heute findet das Zentrallandwirtschaftsfest alle vier Jahre auf dem Oktoberfest statt.

Entwicklungen im Sport- und Showbereich

Die vielen Attraktionen machen auch heute noch den Charme des Oktoberfests aus. Freilich änderten sich die sportlichen Darbietungen im Laufe der Zeit in ihrem Verständnis, die Belustigung wich zum Teil dem Wettkampf, und die kulturellen Veranstaltungen und Einrichtungen passten sich dem Zeitgeist an. In ihren Grundpfeilern sind sie bis auf wenige Ausnahmen aber konstant geblieben.

So begann die Tradition des Festschießens 1816 mit einem Vogelschießen und wandelte sich sowohl hinsichtlich des zu zielenden Objekts (Vogel, Hirsch, Scheibe) als auch in ihrem Wesen. Heute werden die besten (Sport-)Schützen auf dem Oktoberfest in einer eigenen Veranstaltung mit strengem Reglement gekürt, und auch der Reitsport veränderte sich. In der Mitte des 19. Jahrhunderts erlebten die Pferderennen einen Einbruch. Verschiedene Ansichten, was z. B. die Länge der Rennbahn oder die Form des Rennens betraf, führten zu häufigen Querelen und die Tendenz des Rennens ging immer mehr in Richtung Leistungsschau denn Vergnügen.

Geradezu magisch zogen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Schausteller die Wiesn-Besucher in ihren Bann. Zuvor durften keine auswärtigen wandernden Musiker, Akrobaten und Schausteller auf dem Oktoberfest ihre Künste zeigen. Auch Michael August Schichtls Illusions- und Marionettentheater mit seinen raffinierten Verblüffungen stammt aus dieser Zeit. Spiel und Tanz, wie sie auch zu Handwerks- oder Kirchweihfesten gehörten, veranstalteten die Wirte privat (z. B. Kegelbahnen hinter den Wirtsbuden), 1868 bis 1914 wurden Kegeln und Tanzen verboten.

Wie viel »oid« steckt in der Oidn Wiesn von heute?

Die Oide Wiesn dreht die Zeit zurück. Aber in welcher Zeit befindet sich der Besucher, wenn er heute auf die Oide Wiesn geht? Nicht ganz 120 Jahre dürften es bei den Fahrgeschäften sein: Hermann Kretzschmars »Humoristisches Velodrom« stammt aus dem Jahr 1901, auf dem »Kettenflieger« von Karl Johann Kalb konnten die Wiesn-Besucher 1919 zum ersten Mal die Füße baumeln lassen, und die Schiffschaukel ging 1925 in Betrieb. Weitere historische Geschäfte sind die »Fahrt ins Paradies« und ein Kinderkarussell. Und auch wenn auf der Oidn Wiesn alles etwas kleiner und unverstärkt daherkommt, Gaudi und Genuss bilden dort ein wunderbares Paar!

Als Paar, das bei den Wirten der Oidn Wiesn großgeschrieben wird, treten auch Genuss und Tradition auf, u. a. wird das Bier nicht aus Glas-, sondern traditionell, »wie’s hald früher war«, aus Tonkrügen (Keferlohern) getrunken. Bis Ende der 1950er-Jahre wurde das Bier in besagten Tonkrügen ausgeschenkt, erst dann kamen Glaskrüge zum Einsatz. Traditionell ist auch die Musik in den drei Zelten (Zur Schönheitskönigin, Herzkasperlzelt und Festzelt Tradition). Neben der obligatorischen Blasmusik, die auch die übrigen »großen« Zelte auf der Wiesn kennen, kommen hier Volkssänger, -musikanten und -tänzer auf ihre Kosten. Hier gehört die Bühne den (Couplet-)Sängern und den vielen Volksmusikgruppen in unterschiedlichster Besetzung und Couleur. Und eins ist klar: »Oid« auf der Oidn Wiesn heißt traditionell – nicht alt und verstaubt! Sogar der Bierpreis folgt der Tradition einer jährlichen Preissteigerung.

Wiesn-Spätzünderin

Wenn man nicht in und um München aufwächst, gehört die Wiesn vielleicht weniger zu einem Pflichtprogramm, das man im Laufe eines Jahres »absolvieren« muss. Und so kannte ich das Oktoberfest bis zu meinem 21. Lebensjahr auch nur durch die zahlreichen Medienberichte, allem voran aus dem Fernsehen. Der Einzug der Wiesnwirte und das obligatorische »Ozapft is!« des Münchener Oberbürgermeisters, dazu Gespräche mit Promis und Organisatoren der Wiesn – alles eine rein audiovisuelle Angelegenheit in meiner Jugend. Erst 2008 war ich zum ersten Mal dort und durfte die Wiesn erleben. Bekannte, alle echte Münchner Kindl, nahmen mich mit und zeigten mir, was es mit dem berühmtesten Volksfest auf sich hat. Selbstverständlich sind wir Riesenrad gefahren, haben uns ein Hendl und eine gscheide Maß Bier schmecken lassen, sind an den unzähligen Süßwarenabteilungen (nicht nur) vorbeigegangen, sind an den Waren- und Kreativbuden hängen geblieben und haben einen wunderschönen Porträtscherenschnitt anfertigen lassen, der mich heute noch an diesen ersten Wiesnbesuch erinnert.

Am interessantesten fand ich damals schon, wie die Münchner Bekannten von der Wiesn zu ihrer Kinderzeit erzählten, also etwa dem Zeitraum, als das Oktoberfest nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Fahrt aufnahm. Beim ersten Rundgang erhielt ich eine Kurzversion Wiesn-Geschichte, u. a. welche Einrichtungen es schon ewig gibt – z. B. das »Zaubertheater« Schichtl, viele Zelte, die auch heute noch bestehen usw. – und welche (lustigen) Ereignisse sie in ihrer Jugend rund um die Wiesn erlebt haben. Die Party auf den Bänken haben wir ausgelassen, dafür aber ganz retro die Krinoline getestet.

Oktoberfest in den 1920er-Jahren

Weißblaue Lebensart

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