Text: Daniel Fuchsberger Fotos: Martina Unterrainer, Ulrike Rauch, Steirisches Volksliedwerk
Das Steirische Volksliedwerk hat vor einiger Zeit die MuDaba.at ins Leben gerufen, eine Präsentationsplattform für (singende und/oder spielende) Volksmusikanten. Als Kriterium für eine Eintragung wurde festgelegt, dass die jeweilige Musikgruppe zumindest auch (aber nicht zwangsläufig nur) Volksmusik in ihrem Repertoire haben muss. Inzwischen ist diese Musikantendatenbank (dafür steht das Kürzel MuDaBa) auf etwas über 100 Einträge angewachsen, und beim Durchblättern der Ensemblefotos machte meine Kollege Florian Wimmer eine Feststellung, die mich – zwar nicht in der grundsätzlichen Tendenz, sehr wohl aber in der Ausschließlichkeit – erstaunte: Es gibt darin kein (!) Ensemble, das sich nicht in Tracht präsentiert.
Da ich nun – als derjenige, der im Kontakt mit den Gruppen die Datenbank betreut – mit Sicherheit sagen kann, dass wir das niemandem vorgeschrieben haben, wage ich folgende Hypothese aufzustellen: In der Selbstwahrnehmung praktisch aller (mir bekannten) Volksmusikgruppen gilt: Tracht und Volksmusik ghern zsåmm. Anders formuliert: Tracht-tragende Musikgruppen spielen (oder singen), so der »Code«, Volksmusik.
Seit wann ist diese Zuschreibung fixiert? War die Entstehung dieser Konnotation eine demokratische Entwicklung, eine markt-bezogene Entscheidung, oder eine Anweisung von oben?
Identifikation, Symbol, Unterscheidungsmerkmal?
Zum Thema Tracht und Zuschreibung möchte ich ein bemerkenswertes Zitat aus einem Guatemala-Reiseführer an den Anfang stellen: »Die Tracht ist keine Erfindung der Maya. Vielmehr wurden die Einheimischen Guatemalas von den Spaniern im 16. Jahrhundert je nach Dorf in unterschiedliche Kleidung gezwungen, um sie voneinander unterscheiden zu können. Erst im Laufe der Zeit wurde die traje (Tracht) zu einem Identifikationsmuster und zur Trägerin unterschiedlicher Symbolgehalte.« Da der Alpenraum keine koloniale Vergangenheit hat, kann ein solcher Ursprung für unsere Trachten ausgeschlossen werden. Aber das Beispiel zeigt, dass (stolze) Selbstidentifikation mit kulturellen Symbolen nicht automatisch auch bedeutet, dass deren Ursprung in einem »natürlichen Grundbedürfnis« der Bevölkerung liegen muss.
Die Trachten, wie wir sie heute – unter dem Attribut »traditionell« – kennen, sind (übrigens genauso wie ein großer Teil des »traditionellen« Volksmusikrepertoires) jünger, als das in der öffentlichen Wahrnehmung transportierte Narrativ vermuten ließe. So gehen die »Dirndln« – in ihrer heutigen Form – auf Entwürfe der »Trachtenerneuerin« Gertrude Pesendorfer aus den 30er und 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts zurück, und auch die kurze Trachtenlederhose ist kein uralt-hergebrachtes Kleidungsstück...
Tatsächlich aber findet man die Konnotation der Tracht als Überbetonung des »Ländlichen« aber schon bei »Show-Acts« des 19. Jahrhunderts: Die Steyrischen Alpensänger, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Konzerttourneen bis nach Amerika unternahmen, waren nichts anderes als in Trachtenanzügen auftretende Wiener.
Zwischen Konstrukt und Geschmacksache
Beim Tragen von Tracht – sowohl bei aktuellen oder historischen Musikgruppen – zählt also nicht das wirkliche Alter der Designs oder ihre tatsächliche regionale Verortung, sondern die ihnen zugeschriebenen geographischen (»Steirisch«, oder auch kleinräumigere Angaben wie Soundsoer Dirndl) und zeitlichen Bezüge (»uralt«) – also ihre Echtheit, in jüngerer Zeit auch gerne »Authentizität«. Diese Eigenschaften werden übrigens auch der ausgeübten (Volks-)Musik zugeschrieben, und sind auch dort von Fall zu Fall einmal wahrer, einmal konstruierter.
Inwieweit diese Bezüge plausibel – oder überhaupt wichtig – sind, obliegt letztlich dem Geschmack des Einzelnen: Sowohl die Musik als auch die Kleidung sind definitiv inspiriert von älteren Formen, haben aber im Laufe ihrer Geschichte bewusste Veränderungen erfahren, und ob sie einem gefallen, muss jeder selbst entscheiden.
Bemerkenswert ist jedenfalls, dass es anscheinend immer wieder ein Anliegen der (Tracht und Musik) verändernden (»erneuernden«), oder neu-kreierenden Personen war (und ist), den jüngeren Ursprung ihrer Werke mithilfe eines griffigen Narrativs zu verschleiern. Allein schon der Begriff »erneuern« suggeriert, dass nicht etwas Neues geschaffen wurde, sondern – so wie es z. B. von den christlichen Erneuerungsbewegungen jüngeren Datums verstanden wird – dass etwas Altes in seiner »reinen« Form neu entdeckt wird. So verlieh Pesendorfer jedem ihrer Designs einen Namen, der Lokalität und Alter suggerierte Wallnöfer 2012, S. 202 , eine Praxis, die, nicht ganz zufällig praktisch zeitgleich, (unter anderem) auch der Salzburger Volksmusikant Tobi Reiser gerne für seine Musikstücke verwendete.
Auch einem nach seinen Vorgaben in den 1950er-Jahren neugeschaffenen Volksmusikinstrument, dem chromatischen Hackbrett, verlieh er eine geographische Verortung (Salzburger Hackbrett) und ein Entstehungsnarrativ mit »uralten« Bezügen. Siehe dazu: Donald Preuß: Wie das Hackbrett (wirklich) wieder nach Salzburg kam, in: Wolfgang Dreier und Thomas Hochradner (Hg.): Im Blickpunkt: Tobi Reiser, Salzburg 2011, S.113 – 133.
Auch heute ist (tatsächliche oder gut erzählte) Regionalität und der Bezug auf Uraltes (»Wurzeln«), als scheinbar sicherer Gegenentwurf zu stürmischen Zeiten und einer alles bestimmenden Globalisierung, wieder ein geistiger Zufluchtsort für viele. In der Tourismuswerbung sowieso, aber auch in einschlägigen Land-Lifestyle-Magazinen (ob gedruckt oder in bewegten Bildern) wird gerne auf urwüchsige Menschen (meist die allerletzten ihrer Art!) und uralte Traditionen in wildromantischen Gebirgsdörfern verwiesen.
Unverfälscht und ortsüblich
Bei allem Verständnis für Biedermeier-Cocooning-Sehnsüchte kann ich doch nicht umhin, eine Stelle aus dem Vorwort zu einer Volkstanz-Sammlung des genannten Tobi Reiser zu zitieren, die eine frappant ähnliche Romantik bedient:
»Wir wissen, daß die einfachsten Formen, wie sie der Bauerntanz kennt, […] in unvordenkliche Zeiten der menschlichen Gesittung zurückreichen. Diese ursprünglichen und echten Volkstanzformen [sind] Sinnbilder der Volkskraft, ihrer Naturnähe und Erdverbundenheit […] Bekanntlich spiegelt der Volkstanz als Schöpfung unserer Volksseele einerseits die blut- und bodenbedingte Vielfältigkeit unserer deutschen Stämme, andererseits die Einheit unseres Volkes wieder [sic!].« Und eine Seite später folgt die Trachtenanordnung: »Man achte auf eine unverfälschte Musik mit einer ortsüblichen Besetzung und eine gediegene, dem Menschen und der Landschaft entsprechende Kleidung.«
Nun ist es ja so, um gleich allen Einwänden zuvorzukommen, dass sich niemand (auch ich nicht) davon abhalten lassen muss oder soll, Tracht zu tragen oder Volksmusik zu spielen, nur weil es einem Nazi gefallen hätte – aber dass man selbst (und auch das Wohlfühlfernsehen) mit diesen Personen ästhetische Vorstellungen teilt bzw. diese unbewusst befolgt, ist zumindest wissenswert.
Der Künstler Friedemann Derschmidt hat hierzu die Frage nach einer »ideologischen Vererbungslehre« gestellt, die sich damit beschäftigt, wie NS-Vorstellungen, -Wertehaltungen und -Ästhetik unbewusst über Generationen weitergegeben werden. Näheres dazu in seinem Buch Sag du es deinem Kinde!, Wien 2015.
Eine Frage des Stils
Nach diesem (unvermeidbaren) Exkurs möchte ich noch auf mögliche Code-Differenzierungen, des Volksmusik-konnotierten Trachten-Universums eingehen. Zuerst die Betrachtung von außen: Ob ein Dirndlgwand neonpink oder altrosa, eine Lederhose boden- oder knielang ist, das mag aus Sicht eines Outsiders (man denke z. B. an einen Touristen beim Oktoberfest) lediglich eine unwichtige Design-Nuance darstellen, für Trachten-Code-geschulte Personen entscheiden diese Beispieldetails über »gut« und »schlecht«, »üblich« oder »untragbar«.
Und so erschließt sich, um noch einmal zur optischen Vergleichswelt der MuDaBa.at zurückzukommen, dem Insider eine Tracht-Bandbreite, die vermutlich oftmals (bewusst oder unbewusst) die verschiedenen Selbstwahrnehmungen der Ensembles repräsentiert. So bekommt man »traditionelle« (eigentlich also »erneuerte«) Dirndln und Lederhosen zu sehen, am anderen Ende des Spektrums solche, die bewusst nur Elemente herkömmlicher Trachten zitieren und daraus »urbane« Designs kreieren (nach Art der Designerin Lena Hoschek), genauso Trachtenanzüge mit bewusst verwendeten »altvadrischen« Accessoires (Hosenträger, Backen- und Schnurrbärte usw. – Vintage-Look also) oder Ensembles in einheitlichen Trachten (also Trachten als Uniformen, wie sie sich auch im Blasmusikbereich etabliert haben). Die Vermutung liegt nahe, dass die Musikanten damit auch (unterbewusst oder ganz absichtlich) etwas über die Art ihrer Musik aussagen: Ob sie also – in obiger Reihenfolge – eine eher traditionelle Volksmusikauffassung vertreten oder sich dem »progressiven« Lager zuordnen (mit x); ob ein bewusst sich in die Tradition einordnender Volksmusikbegriff betont werden soll oder ein solcher, der das Ensemble (vielleicht auch die spezifische Besetzungsform) in den Vordergrund rückt.
Um also abschließend die einleitende Frage zu beantworten: Tracht und Volksmusik ghern definitv zsåmm, denn offensichtlich entscheiden sich die weitaus meisten Volksmusikgruppen dafür, in Tracht aufzutreten. Von einer Normierung jedoch – und das ist die für mich positive Entwicklung daran – ist die präsentierte Bandbreite von Kleidung und Musik trotzdem weit entfernt!