Warum es wichtig ist, das Exotische in der Tracht von zwei Seiten zu betrachten
Man kommt schnell ins Philosophieren mit Alexander Wandinger, dem Leiter des Trachten-Informationszentrums des Bezirks Oberbayern in Benediktbeuern. Das Thema Tracht an sich schafft dafür aber auch viele Spielräume: Woher kommt das »Gwand«, das wir heute Tracht nennen? Geht es bei der Trachtenpflege darum, einen als Kulturgut verstandenen Status quo zu erhalten? Oder kann, darf und muss sich die Tracht weiterentwickeln, wie es auch die Mode tut – und immer getan hat? In der aktuellen Ausgabe der »zwiefach« geht es um »Exoten« in der Tradition. Gerade Kleidung liefert über Jahrhunderte immer wieder Beispiele für Außergewöhnliches und »Exotisches«. Eigentlich – darauf kommen wir im Gespräch mit Alexander Wandinger immer wieder – ist zur rechten Zeit alles exotisch. Und gleichzeitig nichts. Weil es viele Dinge, die heute als extravagant angesehen werden, schon einmal gegeben hat. Und viele Dinge, die uns heute als »normal« erscheinen, früher extravagant waren.
Text und Interview: Eva Geiger-Haslbeck Fotos: Trachten-Informationszentrum, Bezirk Oberbayern
Die Tracht, wie wir sie heute kennen«, erzählt Alexander Wandinger, »ist eigentlich immer ein Konstrukt. Tracht ist Mode, die von Themen wie Zugehörigkeit, aber auch Abgrenzung, vom Männer- und Frauenbild der jeweiligen Zeit, von vermeintlichen Traditionen, die zu einer bestimmten Zeit festgehalten wurden, geprägt wird.« Die Tracht – ein Konstrukt? Überspitzt gesagt: Gibt es also gar keine »echte« Tracht? »Man muss zwei wichtige Dinge unterscheiden, wenn man über Tracht spricht: die institutionalisierte Trachtenpflege, zum Beispiel in den Trachtenvereinen, und die allgemeine Trachtenmode. Bei ersterer ist es ganz klar, was getragen wird und wie es getragen wird. Weil eben diese Vereine sich eine Struktur mit bestimmten Regeln gegeben und darüber definiert haben: Das ist unsere Tracht. Die Mode, zu der zum Beispiel auch das Dirndlgwand gehört, ist da flexibler. Beides muss man zunächst getrennt voneinander betrachten. Und nicht damit anfangen, das eine gegen das andere auszuspielen – nur so bekommt man einen Zugang zum Thema.«
Wandinger ist Experte für diese nicht-wertende, wissenschaftliche Betrachtung von traditioneller Kleidung. Im Trachten-Informationszentrum lagern rund 10.000 Kleidungsstücke und Accessoires aus mehreren Jahrhunderten bayerischer Trachtenkleidung. Dabei sind kunstvoll verzierte Hauben, Mieder und Schälke in allen Variationen, bestickte Gürtel,aber auch Lurex-Dirndl aus den 1970er-Jahren. Das kulturelle Leben, sagt Wandinger, bildet sich auch in der Kleidung ab. Und die Mode macht vor der Tracht nicht halt. Nicht erst im 20. Jahrhundert gibt es Neuentdeckungen und Verrücktheiten im traditionellen Kleidungsstil, die vielleicht nicht jedem gefallen, aber eben auch nicht immer als Geschmacksverirrung verworfen werden. Das, was heute als das echte, wahre, urtümliche bayerische »Gewand« begriffen wird, hat seinen Ursprung oft in der Mode von vor nicht einmal 200 Jahren. »Ein gutes Beispiel, immer wieder gerne zitiert, ist das Thema Dirndlgwand und Lederhose. In den Anfängen des 19. Jahrhunderts, als das Leben auf dem Land vom städtischen Bürgertum entdeckt und als hübsch, pittoresk, vermeintlich urwüchsig rekrutiert worden ist, galt die Tracht für den Städter als exotisch. Andersherum waren die Städter, die plötzlich aufs Land reisten, ihr Aufzug und ihr Verhalten für die Menschen auf dem Land exotisch. Das, was man nicht kennt und selbst nicht lebt, ist oft anziehend, manchmal abstoßend, aber in jedem Fall interessant. Das ist ja bis heute so.«
Der »Exotenfaktor« hatte also eine Wechselwirkung: Die Stadtbevölkerung schaute sich etwas von der Landbevölkerung ab – und umgekehrt. »Gerade in der Tracht gibt es dazu ein wunderbares Beispiel«, sagt Wandinger. »Es gibt die sogenannte Dachauer Tracht, ein Gwand, das von Frauen in einem 40 Kilometer breiten Streifen zwischen Dachau und Landsberg getragen wurde, mit ganz hoch taillierten Röcken, die über einen Wulst genäht sind. Heute würde das sehr unförmig wirken, damals war es aber einfach eine verbäuerlichte Empire-Mode. Für unser heutiges Schönheitsempfinden total daneben. Diese Tracht gab es so zwischen 1850 und 1900, und wenn diese Frauen damals in die Stadt gekommen sind, haben sicher viele geschaut und gesagt: Schau mal die an, wie schaut die denn aus. Umgekehrt wird sich die Frau in der Dachauer Tracht mit ihrem Schönheitsideal in München auch gedacht haben: Ja, was haben denn die an? Das ist das Gleiche in grün – und bis heute ist das nicht viel anders.«
Die Entdeckung des Menschen auf dem Land
Gerade in der Zeit nach der französischen Revolution, so Wandinger, habe sich unser heutiges Verständnis von Tracht und Tradition in Bayern erst allmählich entwickelt. Zur Gründung des Königreichs 1806 flammte ein neuer Nationalstolz auf, ein Identitätsbewusstsein, das noch im 18. Jahrhundert höchstens im kleinsten regionalen Rahmen – der Dorfgemeinschaft, der Familie – verbreitet war. Die Entdeckung des Menschen auf dem Land durch Kunst, Wissenschaft, Kultur gab dem Landleben eine neue Aufmerksamkeit. Man fühlte sich gesehen und ernst genommen. Historische Feldforschung von oberster Stelle und der legendäre Trachtenumzug anlässlich des ersten Oktoberfestes taten ihr Übriges: »Die Leute in der Stadt haben die Landbevölkerung als etwas betrachtet, was sie eigentlich schon damals nicht war – nämlich als eine sich nicht weiterentwickelnde, bäuerliche Gesellschaft. Die am besten immer so bleiben soll, wie sie gerade war. Das sei echt und von den Vätern ererbt. Dass die Menschen auf dem Land sich alle 30 Jahre komplett umgekleidet haben, das ist einfach negiert worden. Alles sollte ungetrübte Natur sein, so bleiben, wie es ist, das stellen wir uns ja teilweise bis heute so vor. Aber nichts bleibt so, wie es ist – auch wenn es vielleicht schön wäre.« Leben, sagt Wandinger, ist kein Stillstand. Und so wertvoll es sei, dass man sich um den Erhalt von Tracht und Tradition kümmere, so wichtig sei es auch, sich daran zu erinnern, dass es Stillstand zu keiner Zeit – und in keiner Form – gegeben habe.
»Es gehört zu meinen Aufgaben, dass ich mich hineinversetze in einen Trachtenverein, der seine eigenen Problemstellungen hat, genauso wie in einen Menschen, der sein Wiesn-Partykleid anzieht und sagt: Das ist doch toll. Da mache ich einen Schritt auf die Seite und werte nicht. Deswegen ist für mich, was Tracht anbelangt, auch nichts mehr exotisch. Nicht mal die Dachauer Bäuerin mit ihrer Empire-Taille, weil ich eben weiß: Aha, das war damals Mode. Es ist fantastisch und außergewöhnlich, was die Mode alles geboren hat. Was die Menschen auf dem Land getragen haben, ist ja oft etwas, das sie aus dem bürgerlich-städtischen Umfeld übernommen haben. Wenn sie das umsetzen, dann regionalisieren sie diese Kleidung mit ihrem Schönheitsempfinden – und dabei kommen manchmal wirklich verrückte oder eben exotische Dinge heraus. Hauben, die aussehen wie Ufos. Komplett steife Mieder. Natürlich auch diese unglaublich tollen Gürtel bei Männern, ganz schmal, ganz breit, mit feinster Federkielstickerei in Tausenden Stichen verziert. Das sind teilweise Dinge, die uns heute als ganz ausgefallen und wertvoll erscheinen – damals waren sie aber schlichtweg modisch angesagt.«
Der Exot schlechthin
Wandingers Lieblingsbeispiel für »exotische« Tracht? Das lässt staunen. »Die kurze Lederhose als Festtagsgwand ist seit etwa 1880 eigentlich so exotisch wie sonst kaum etwas. Denn bis Mitte der 1960er-Jahre trägt jeder Mann einen schwarzen Anzug zur Hochzeit. Auch am Sonntag in der Kirche. Heute gelten beide Kleidungsstücke, Dirndlgwand und kurze Lederhose, für viele Menschen als der Inbegriff von Tracht schlechthin.« Ein weiteres Beispiel, sagt Wandinger, sei der Männerohrring. »Der Kurfürst und spätere König Max I. Joseph hat einen Ohrring gehabt, Adolf Scherzer hat einen Ohrring gehabt – es gibt genügend Bilder davon. Das war damals einfach Mode und wurde in der Volksmedizin mit der Linderung von Augenkrankheiten verbunden. Heutzutage werden Ohrringe bei Männern ja schnell mit Piraten, Zimmerleuten, Punks oder einer bestimmten sexuellen Orientierung konnotiert. Dabei sind sie auch zur Tracht ein ganz normales Accessoire. Man versucht, die Tracht auf das runterzurastern, was man schon kennt – obwohl viele andere Sachen vielleicht gar nicht exotisch sind, sondern genauso dazugehören. Das hat schon auch viel mit Moralvorstellungen zu tun, aber weniger mit tatsächlicher Tradition. Das brave Mäderl, der wilde Bursch, aber alles sittsam – dieses Bild wird gerne nach außen erhalten.«
Selber experimentiert Wandinger gerne, geht in normaler Kleidung oder »abgespeckter« Tracht aufs Oktoberfest. »Da fällt man mittlerweile auch wieder auf – weil die Wiesn in ihrem Erscheinungsbild mittlerweile stark von der Trachtenmode dominiert wird, was bis in die 1990er-Jahre noch ganz anders war. Für mich ist das Spiel mit der Kleidung auch Feldforschung und damit ein wesentlicher Bestandteil meiner Arbeit. Jetzt ist man auf der Wiesn ein Exot, wenn man keine Tracht trägt.«
Und die vielen Dirndl- und Lederhosenvariationen, die einem mittlerweile entgegenkommen? Mei, sagt Wandinger, es muss einem nicht alles gefallen – aber man sollte sich darüber freuen, dass das kulturelle Erbe, so exotisch es manchmal sein mag, verbreitet und weiterentwickelt wird. »Ich glaube, wir müssen aus der Wertung rauskommen. Nicht mehr sagen: Das ist jetzt exotisch oder nicht. Sondern eher: Aha, so schaut das also aus. Wie gehts mir damit? Gefällts mir – oder nicht? Immer wieder neu auf die Tracht schauen, neu hinterfragen, keine Regeln aufstellen. Entwicklung ist wichtig – und kann, abgesehen davon, auch nicht aufgehalten werden.«
Was lernen wir also über »Exoten« in der Tracht? Dass es sie immer schon gegeben hat. Dass die Exoten von einst die Norm von heute sind. Und dass das gerne immer so weitergehen darf! »Es braucht eine gesunde Anarchie, die freundlich und zugewandt bleibt. So eine hätten wir eigentlich in Bayern, gegenüber den Dingen, die glauben, uns sagen zu müssen, wie etwas zu sein hat. Mittlerweile ist es allerdings so: Alles, was uns besonders, exotisch und wunderbar erscheint, stellen wir gerne auf eine Bühne – und riskieren damit, dass es im ›normalen‹ Leben keinen Platz mehr hat. Der natürliche Umgang mit Veränderung im täglichen Leben ist aber das, was uns als Menschen ausmacht. Man muss die Dinge immer von mindestens zwei Seiten betrachten.«
Das Trachten-Informationszentrum (TIZ) in Benediktbeuern – eine Einrichtung des Bezirks Oberbayern – ist hervorgegangen aus einer jahrelangen Forschungs- und Sammeltätigkeit zur oberbayerischen Bekleidungskultur. Heute umfassen die Bestände des Zentrums – in dieser Art weltweit einzigartig – Tausende Original-Kleidungsstücke, Bilder und eine umfangreiche Bibliothek mit zahlreichen Raritäten und bibliophilen Kostbarkeiten. Noch wichtiger als Pflege und Bewahrung der Schätze von gestern allerdings ist für das TIZ die Herausforderung, die Vergangenheit in den Dienst der Gegenwart und Zukunft zu stellen.
Kontakt: Trachten-Informationszentrum des Bezirks Oberbayern
Michael-Ötschmann-Weg 2
83671 Benediktbeuern
Tel.: +49 8857 88833
www.trachten-informationszentrum.de