Das Rückgrat am Tanzboden: Was die Harmonika für alpenländische Tanzlmusi so unverzichtbar macht
Text: Marie-Theres Stickler, Fotos: Stephan Mussil, Irmi Sinnesbichler, Peter Schneider, Elsa Ogazaki
»Die Wirbelsäule ist in ihrer Gesamtheit das zentrale tragende Konstruktionselement der Wirbeltiere.«– Moment mal ... Warum steht hier ein Satz wie aus dem Biologiebuch? Ganz einfach: Adaptiert man diese Definition der menschlichen Wirbelsäule ein klein wenig, so gelangt man flugs zu einer sehr stimmigen Beschreibung der Harmonika: »Sie ist das zentrale tragende Konstruktionselement der Tanzmusik« – sie ist die Mitte, sie verbindet die Teile des musikalischen Skeletts. Keine Angst, es folgt keine Anatomiestunde, sondern vielmehr eine Hommage und damit eine Liebeserklärung an die Harmonika mit ihrer vielschichtigen Funktionalität, ganz besonders in Bezug auf die Tanzmusik.
Organisch oder mechanisch? Beides, auf jeden Fall »steirisch-diatonisch«!
Nur ein klein bisschen mehr Anatomie muss ich euch, werte Leser, doch noch zumuten. Um den Wiener Harmonikaspieler und Maler Karl Hodina zu zitieren: »Die Harmonika bzw. das Akkordeon ist ein vollkommenes Instrument«. Die Wahrheit dieser Aussage liegt im Auge des Betrachters, für mich als Harmonikaspielerin aus Leidenschaft trifft dieses Zitat auf jeden Fall ins Schwarze. Durch den Balg in der Mitte, der wie eine Lunge funktioniert und dem Instrument erst das nötige Quantum an Leben einhauchen kann, bekommt es eine sehr organische Note, noch dazu da es am Oberkörper des Spielers/der Spielerin getragen wird und so noch mehr mit dem-/derselbigen verwachsen kann. Gleichzeitig hat das Instrument durch die Bedienung mittels Tasten, besser gesagt Knöpfen, und der Funktionsweise der durchschlagenden Metallzungen eine sehr mechanische Komponente.
Zwischenfazit: Wir kommen der Vollkommenheit auf jeden Fall nahe.
Das alpenländische Keyboard
Im Grunde genommen ist die Harmonika eine komplette Musikkapelle, verpackt in einem einzigen Instrument. Nun ist ein wenig Vorstellungsvermögen gefragt: Links, auf der Bassseite, befinden sich die Tuba beziehungsweise die Helikonbässe, die Akkordbässe sind die Es-Trompeten oder die Bratschen und das Schlagzeug. Rechter Hand – ich spreche hier vom Spieler/der Spielerin aus gesehen – erklingen quasi Trompeten, Geigen, Klarinetten ...
Nicht ohne Grund wurden dem Instrument im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte die skurrilsten Kosenamen gegeben. In diesem konkreten Fall allen voran: »das alpenländische Keyboard«. Treffender kann man es kaum formulieren! Mit der Erfindung der Harmonika war ein neues Alleinunterhalter-Genre geboren – von nun an konnte man spielend sprechen, singen, stehen, gehen, sich drehen – TANZEN! Egal ob solistisch oder im Ensemble, die Harmonika eignet sich perfekt für die Tanzmusik oder – wie diese ja gerne auch genannt wird – die Tanzlmusi.
Instrumente – klangliche Anforderungen
Besucht man mich in meiner Wiener Wohnung, so seien Klaustrophobiker vorgewarnt:
Es wimmelt nur so von Harmonikas, ähnlich dem Klischee von Omas und deren Sammlung von Porzellanpuppen, in jeder Ecke, jedem Kasten, jedem Regal findet man Harmonikas aller Art.
Ein Prachtstück, das wirklich heraussticht, ist eine über hundertjährige Steiner-Harmonika aus Tobaj im Südburgenland. In Amerika würde man sie eine »Closet Queen« nennen, da sie so eine lange Zeit unbeschadet überstanden hat und die Jahre somit vermutlich in einem Wandschrank verbracht haben muss. Übrigens: Viele Instrumente dieser Marke sind mit burgenländischen Auswanderern nach Amerika gekommen.
Die Steiner-Harmonika ist in C-F-B gestimmt, kompakt gebaut und klanglich sehr laut und scharf – somit für den Tanzboden wie geschaffen. Sie besticht besonders durch ihre Helikonbässe und die ebenso kräftigen Akkordbässe. Der Klang ist nicht unbedingt als »schön« zu bezeichnen, aber perfekt angepasst an die Gesetze der Tanzmusik. Geschmäcker und Moden ändern sich – doch die Klangqualität darf nie in den Hintergrund rücken: Eine Harmonika für Tanzmusik muss laut und hell klingen, um am Tanzboden »durchzukommen«. Dreichörig, sprich drei Chöre pro Ton, ist auf jeden Fall empfehlenswerter als zweichörig, weil automatisch deutlich mehr Volumen gegeben ist. Etwas mehr Tremolo ist hierbei auch von Vorteil. Und schließlich müssen die Stimmzungen leicht und schnell ansprechen, denn so ein Tanzmusikant muss mitunter den ganzen Abend »Stoff geben«.
Vorbilder – einst und jetzt
In meiner Heimat, dem Schneeberggebiet im südlichen Niederösterreich, gab es um die vorige Jahrhundertwende eine Tanzmusikgruppe, die sich die Heher-Banda nannte. Historische Fotoaufnahmen zeigen Männer mit schönen runden Hüten, prächtigen Schnauzbärten und edlen Jacketts. Sehr prominent im Mittelpunkt: eine Steirische Harmonika. Doch worauf will ich hinaus? »Banda« – das ist der wunderbare deutschsprachige Ausdruck für Band! Also, wenn das nicht progressiv war ... und vorbildhaft.
Doch weit größere Vorbilder und maßgeblich prägend für die alpenländische Tanzmusik waren andere. Die Tiroler Kirchtagmusi mit ihrem früheren Harmonikaspieler Franz Posch, die Simon Geigenmusi mit dem Toifl Fritz an der Harmonika, die Flachgauer Musikanten mit Tobi Reiser, dem Jüngeren an der Harmonika waren neben vielen, vielen anderen Musikgruppen maßgebliche Tanzverbreiter. Die Aufgabe der Harmonikaspieler in diesen Ensembles: begleiten, stützen und von Zeit zu Zeit Teile übernehmen, damit die Melodieinstrumente sich kurz ausruhen konnten.
Im Repertoire dieser Gruppen waren mitunter auch Volkstänze – ein Gebiet der Tanzmusik, das man auf keinen Fall ausklammern darf. Die Harmonika ist hierbei nämlich unabdingbar, wenngleich die Spielweise zumeist sehr puristisch und schlicht gehalten ist – denn das Wichtigste ist, dass Funktion erfüllt wird.
Moden – was ist auf der Harmonika »en vogue«?
Moden und Stile verändern sich laufend, auch in der Tanzmusik. Besonders haben sich in den letzten Jahren die Harmonien erweitert, stilistisch hat die Oberkrainermusik Einzug gehalten und einen starken Einfluss ausgeübt. Lange war diese bei vielen Musikern sehr verpönt, mittlerweile ist sie sehr beliebt und – wie ich finde – eine große Bereicherung. Durch die harmonische Erweiterung der diatonischen Harmonika lassen sich auch viele Neuerungen spielen und die Tanzmusik ist im Fluss. Spannende Vertreter sind hier die Hallgrafen Musikanten mit dem Knopfakkordeonisten Kastulus Meier, die Weiß’ngroana mit dem »Ausnahme-Ziachara« Quirin Kaiser – beide Gruppen aus Bayern – oder auch die WüdaraMusi, bei der ich mitspielen darf.
Puristen oder Traditionalisten könnte es bei diesen neueren Formen der Tanzmusik zwar übel aufstoßen, aber das macht nichts. Geschmäcker sind glücklicherweise verschieden.
Konsens: »Foan muass!« – der Groove muss spürbar sein
Wie sich dieser Groove dann letztlich anfühlt, ist eine andere Geschichte. Es ist verblüffend, wie unterschiedlich die Empfindungen sein können. Setzen sich zum Beispiel ein Tiroler »Ziachorgelspieler« und ein harmonikaspielender Burgenland-Kroate zusammen und spielen gemeinsam einen Walzer, könnte dies nach einem ganz schön wilden Durcheinander klingen. Doch man muss gar nicht so weit gehen, selbst zwischen Musikern aus Tirol, Salzburg oder Bayern scheiden sich oft die Geister und man stellt sich die Frage: Wo ist der Offbeat, wie spielt man die Begleitung? Das Gefühl, wie dieser Puls funktioniert, kann, wie gesagt, sehr unterschiedlich sein. Persönliche, aber auch regionale Stile wirken hier stark ein und es gibt keine klare Vorgabe. Bei diesem Thema – bei dem aktive Tanzmusikanten übrigens gefährdet sind, in Grundsatz-Diskussionen zu versinken! – befinden wir uns bereits mitten in der musikalischen Philosophie.
In meiner Brust schlagen auch mindestens zwei »Groove-Herzen«. Eines schlägt für den Osten und eines für den alpinen Westen. Tatsächlich kann man diese beiden Rhythmus-Empfindungen herausarbeiten, wenngleich es auch noch viel dazwischen gibt. Damit nun nicht zu sehr theoretisiert wird – macht euch einfach selbst euer Bild, werte Leser. Youtube bietet hierbei ein musikalisches Schlaraffenland.
Apropos Herz: Gehen wir nochmal zurück zum Anfang. Unsere alpine Tanzmusik, wie sie gebräuchlich ist, kann man allerhöchstens auf die letzten 200 Jahre zurückführen, ein bisschen später dann kam die Harmonika dazu. Aber allen voran war da der Landler. Die Urform der alpinen Volksmusik – darin verpackt befindet sich der Herzschlag. Das ist kein schlechter Scherz, sondern die reinste Wahrheit: Die Betonungen in dieser dreivierteltaktigen Gattung liegen auf den Taktzeiten eins und drei. Daraus ergibt sich ein Rhythmus, der einem gesunden, pumpenden Herzmuskel ähnelt: Bumm-bumm. Bumm-bumm. Bumm-bumm. Tanzmusik ist Herzensmusik!
Marie-Theres Stickler
1988 geboren und aufgewachsen im niederösterreichischen Schneebergebiet, begann Marie-Theres Stickler im Alter von 6 Jahren autodidakt das Harmonikaspiel. Auslöser dazu waren gleichermaßen ihre musikbegeisterte und engagierte Mutter Helen und der Musiker Hubert von Goisern, der mit seinem Hit »Hiatamadl« die Charts stürmte. Es folgen Jahre mit vielen Musikveranstaltungen und Harmonikatreffen – die ersten Lehrmeister sind im »Wirtshaus« anzutreffen – Musikseminare, erste Ensembles, selbst erfolgreich absolvierte Harmonikawettbewerbe zählen zu den Referenzen der jungen Marie-Theres Stickler. Im Alter von 13 Jahren nimmt sie Unterricht beim Harmonikaspieler Hans Schröpfer, viele unterschiedlichste Musikgruppen kommen und gehen.Seit 2006 studiert sie Instrumentalpädagogik »Volksmusikinstrumente«, Hauptfach Diatonische Harmonika am Mozarteum Salzburg, kurz darauf kam der Einstieg ins Ensemble »Die Tanzgeiger« in Wien. Die unterschiedlichen Volksmusiklandschaften mit ihren Musizierstilen, in diesem Fall Ost- und Westösterreich (Wien – Salzburg), unter einen Hut zu bringen, sprich in einer Musikerin zu vereinen, wurde zur Herausforderung, die sich schließlich als große Bereicherung entpuppt. Seit einigen Jahren beschäftigt sich Marie mit Quetschkommoden vieler Art: Diatonisch – die Steirische Harmonika, chromatisch – die Wiener Schrammelharmonika oder auch eine Mischung aus beiden – die Chemnitzer Konzertina, der Vorläufer des Bandoneon. So spielt sie diatonisch, chromatisch, steirisch, wienerisch, hin und wieder theoretisch, aber viel lieber praktisch.
Neben der Formation ALMA, in dem Eigenes, Neuartiges, aber auch Traditionelles vermischt wird, gibt es noch weitere beständige Gruppen, in denen Marie-Theres Stickler mitmischt – so spielt sie lebendige traditionelle Musik mit »Die Tanzgeiger«, neue Wiener Weltmusik, alte Wiener Schrammelmusik und alles andere, das sich nur irgendwie ergibt, in vielen Projekten, die das Leben bereichern.
»Cherubim« heißt das Programm von ALMA zur Weihnachtszeit
Weitere Infos: www.alma-musik.at