Mensch und Musik – Pflege und Forschung

Ernst Schusser wechselt in den Unruhestand

Nach fast 35 Jahren im Amt hat sich im Herbst 2020 Ernst Schusser aus der Leitung des Volksmusikarchivs und der Volksmusikpflege des Bezirks Oberbayern in den Ruhestand verabschiedet. Er sorgte beispielhaft dafür, dass in Bruckmühl die Dokumentation der regionalen Musikkultur und die praktische Volksmusikpflege Hand in Hand gingen. Roland Pongratz hat mit ihm einen Blick zurück, in die ­Gegenwart und in die Zukunft gewagt.

Text: Roland Pongratz Fotos: Stefan Rossmann, Herbert Pöhnl, Astrid Schmidhuber, Gerhard Nixdorf, Wolfgang Englmaier, Claudia Richartz, LRA Rosenheim, Bezirk Oberbayern

  • Lieber Ernst Schusser, am 31. Oktober 2020 war Dein letzter Arbeitstag als Angestellter des Bezirks Oberbayern. Kannst Du Dich eigentlich noch an Deinen ersten Arbeitstag in Bruckmühl erinnern?

Eigentlich hat es gar keinen »ersten« Arbeitstag gegeben. Der damalige Bezirkstagspräsident Georg Klimm, sein Stellvertreter Johann Schaffner und der zuständige Kämmerer Lothar Rosner haben gesagt, ich soll einfach so weitermachen wie bisher. Was hat das bedeutet?
Schon in der 2. Hälfte der 1970er Jahre hatte ich den seit 1972 beim Bezirk als Volksmusikpfleger angestellten legendären Wastl Fanderl (1915 – 1991) kennengelernt, der auch die Sänger- und Musikantenzeitung (SMZ) 1958 gegründet und Jahrzehnte geprägt hat. Ich hatte mir für die schriftliche Abschlussarbeit meines Volksschullehrerstudiums an der Pädagogischen Hochschule (PH) in Pasing ein Thema über den Volkstanz im südlichen Altbayern und das Wirken des Sammlers und »Tanzmeisters« Georg von Kaufmann (1907 – 1972), genannt Kaufmann-​Schorsch ausgesucht. Da waren natürlich viele Gewährspersonen zu befragen.
Immer wieder war ich bei meinen Nachforschungen auf Fanderl verwiesen worden, der bei seinen Singwochen die Pflege der Volkstänze einbezogen hat. Fanderl hat mich jungen Studenten sehr wohlwollend aufgenommen, viele Fragen beantwortet und mich sofort und in den folgenden Jahren für seine Arbeiten eingespannt. Es ging um Liedbegleitung bei Singstunden, vor allem aber um Nachforschungen über Persönlichkeiten und Entwicklungen in der regionalen Musikkultur und Volksmusikpflege in Oberbayern und darüber hinaus. Eine sehr interessante und zeitintensive Arbeit. Ich habe auch für die Arbeiten der Volksmusiksammlung Feuer gefangen und mit Wegweisung von Wastl Fanderl viele Handschriften der Sänger und Musikanten aber auch viele Aufzeichnungen aus der mündlichen Überlieferung, z. B. in Wirtshäusern, auf dem Tanzboden, beim Hoagartn auf der Hausbank oder bei Wallfahrten zusammengetragen. Die meiste Arbeit war ehrenamtlich. Für musikalische Tätigkeiten (z. B. Liedbegleitung bei Singstunden) gab es aber ein Honorar von 80 DM, damals sehr viel Geld für einen Studenten.

  • Du hattest aber auch schon andere Aufgaben übernommen …

Ja, zeitgleich war ich auch für den Bayerischen Landesverein für Heimatpflege e.V. und seinen Geschäftsführer Kurt Becher tätig, für das Institut für Volkskunde der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und seinen Volksmusikforscher Wolfgang A. Mayer und für die Abteilung Volksmusik des Bayerischen Rundfunks und seinen Leiter Alfred Artmeier. Bei all diesen Tätigkeiten lernte ich Grundlegendes und Tiefgründiges über die in Oberbayern (und Bayern) überlieferte »Volksmusik« und ihre Pflege – und ich konnte mir mein zweites Studium an der LMU München (Volkskunde, Bayerische Geschichte und Didaktik) finanzieren. Zugleich dienten die Honorare (z. B. 3 – 5 DM pro Stunde Büroarbeit) zum Ankauf von einschlägigen Büchern, Literatur, Tonträgern, alten Quellen usw. als Grundlage einer Fachbibliothek und Sammlung. Oft gab es auch Bücher, Lied- und Musikhandschriften und andere Materialien(z. B. alte Instrumente) als Honorar, besonders bei Wastl Fanderl und Alfred Artmeier.
Bei Arbeiten für Volksmusikinstitutionen in Österreich und Bayern (z. B. in Franken mit Erwin Zachmeier und in der Oberpfalz mit Adolf Eichenseer) konnte ich vergleichend über den Tellerrand schauen und lernen. In Kontakt mit deutschen und österreichischen »Volksmusik«-Fachleuten, Instituten und Professoren kamen wir junge Studenten bei Tagungen und durch die Mitarbeit bei Volksmusikseminaren. Diese Begegnungen haben ein tiefes Verständnis für die Vielfalt und die Entwicklung von »Volksmusik« und überlieferter regionaler Volkskultur ermöglicht. Besonders die bis heute andauernde fachliche Kooperation und Freundschaft mit Prof. Dr. Otto Holzapfel vom ehemaligen Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg hat den Blick geweitet und zusammen mit den Ergebnissen unserer Feldforschungen und der Dokumentation der Volksmusikpflege das Verständnis für persönliche, lokale, regionale und überregionale Entwicklungen und Ausprägungen von »Volksmusik« in der ganzen Bandbreite und der notwendigen Toleranz ermöglicht.
Das ist ein wesentlicher Teil der Vorgeschichte, bevor ich am 1. Dezember 1985 beim Bezirk eine feste Anstellung antrat. Dafür hatten sich neben dem damals aktuellen Volksmusikpfleger Wolfgang Scheck (1943 – 1996) auch viele Volksmusikanten eingesetzt. Sehr dankbar bin ich dem Scheck Wolfi, der mir vorher immer wieder (auch teilweise bezahlte) Aufträge als Unterstützung seiner Arbeit hat zukommen lassen. Damit konnten meine Frau und ich unseren Lebensunterhalt verdienen und meine Mutter beruhigen, die meine doch sehr lückenhaft und sporadisch bezahlte Volksmusikarbeit misstrauisch verfolgte und mich eher im Lehrberuf sehen wollte. Meine Frau Margit war jahrelang Alleinverdienerin über ihre Anstellung im Bildungswerk Rosenheim und zugleich meine unbezahlte Mitarbeiterin. Das ist ein Teil meines Lebens, ganz viel Verschiedenes halt, ca. 10 Jahre bis 1985 – und das war wohl gemeint mit: »Mach einfach so weiter!«

  • Für meine Generation war der Schusser Ernst eigentlich schon immer in Bruckmühl, wir kennen das gar nicht anders. Was hast Du eigentlich vor Deinem Engagement bei Bezirk Oberbayern gemacht und wie bist Du zur »Volksmusik« gekommen?

Das stimmt in mehrfacher Weise: Zum einen bin ich im damaligen Krankenhaus der Gemeinde Bruckmühl im Jahr 1954 geboren. Das ist das Gebäude, in das ab 1999 dann das Volksmusikarchiv des Bezirks Oberbayern eingezogen ist. Zum anderen steht mein Elternhaus in Bruckmühl, in dem ich als Freiberufler in der »Volksmusik« gearbeitet habe. In unserer Familienwohnung, bei den Eltern im Obergeschoss, im Keller und unter dem Dach haben sich immens viele Materialien aus unserer Privatsammlung angehäuft und auch ab 1985 bis 1999 war meine Dienstadresse 83052 Bruckmühl, Friedrich-​Jahn-​Str. 3. Auch unser Privattelefon (08062/5164) war fast 15 Jahre lang auch Diensttelefon – keine einfache Sache für eine junge Familie, die Ehefrau und drei kleine Kinder, wenn z. B. nach 22 Uhr jemand anruft und ein bestimmtes Lied für die gerade stattfindende Probe braucht.
Zur »Volksmusik« gekommen bin ich wohl über die Muttermilch: In diesem kleinen Familienhaus in Bruckmühl kehrten sehr oft Familienmitglieder und Freunde meiner Eltern und Großeltern zu. Meine Mutter stammte aus dem Böhmerwald und der Vater aus dem Egerland. Bei diesen Treffen in der Küche wurde oft und ausgiebig gesungen, die Lieder der alten Heimat eben. Hier lernte ich, dass Singen auch Heimat ist. Alsbald sollte ich mit einem kleinen Akkordeon auch die Lieder begleiten, auswendig und lustig oder ruhig dazuspielen, wie gerade die Stimmung war. Eine harte Schule war das für einen kleinen Bub.
Bei der Bundeswehr und vorher bei den geselligen Schülerfeiern war dieses Auswendigspielen auch gefragt, ebenso wie beim Trachtenverein, bei den Schützen oder bei kleinen Tanzgelegenheiten. Bei der Bundeswehr in Bad Reichenhall sind wir dann nicht nur in der Kantine gesellig singend beisammengesessen, sondern wir sind auch in andere Wirtshäuser der Umgebung ausgerückt. In Anger habe ich dann von alten Wirtshaussängern mein erstes Lied aufgezeichnet, mit Kugelschreiber und auf die Rückseite einer Speiskartn: Guter Freund, ich frage dich … – das Lied von den 12 Zahlen, das wir heute noch bei besonderen Gelegenheiten singen.
Nach der Bundeswehr und während des Studiums habe ich dann begonnen, intensiv Feldforschung zu betreiben, vor allem bei älteren Gewährspersonen – und ich habe Archive und wenig zugängliche Sammlungen durchforstet nach bisher unbekannten Materialien zum Singen, Musizieren, Tanzen und zu musikalischen Bräuchen im Leben.

  • Du hattest auch früh intensiven Kontakt zu beispielhaften »Volksmusik«-Köpfen der damaligen Zeit.

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