»Häng di ån!« – Rudi Pietsch (1951-2020)

»Häng di ån!« – Rudi Pietsch (1951-2020) und sein Einfluss auf die bayerische Streichmusikszene

Eine persönliche Hommage

Text: Evi Heigl; Fotos: Theresa Pewal, Benedikt Heigl, privat

Eilsbrunn, Landkreis Regensburg, März 1985. Ich war 16. Der Gasthof Röhrl zum Bersten voll, in der Mitte des langgestreckten Raums ein kleines Podium. Darauf sollten sie der Reihe nach auftreten, die Gruppen des internationalen Volksmusikabends, den der damalige Bezirksheimatpfleger der Oberpfalz, Dr. Adolf Eichenseer, organisiert hatte. Auf dem Programm u.a. die Steirischen Tanzgeiger, von denen unsere Eltern uns schon vorgeschwärmt hatten. Mein Bruder und ich, beide bereits mit Harmonika und ersten zaghaften Versuchen auf der Geige in der Volksmusikszene unterwegs, nahmen die Auftritte der einzelnen Gruppen mit staunendem Interesse wahr. Es spielten Musiker aus Bayern, der damaligen Tschechoslowakei, aus Ungarn. Zum Teil nie gehörte Musik für uns. Spannend! Dann endlich die Ankündigung der Gruppe aus Österreich: die Steirischen Tanzgeiger.

Da kamen diese fünf noch recht jungen Leute auf die Bühne, mit Geigen, Bratsche, Harmonika, Kontrabass und fiedelten den Leuten ihre Steirer, Walzer, Schleunigen und Jodler um die Ohren, dass die Gehörgänge rauchten! Doch damit nicht genug: Die standen nicht einfach nur da und musizierten, die sangen auch noch freche Texte dazu, unterhielten sich gewitzt mit dem Publikum. Einer von ihnen, der Oberfiedler, sprang mit seiner Geige am Kinn herum wie ein Gummiball, entlockte dem Instrument die unglaublichsten Juchzer und riss dann noch Sprüche, die in ihrer Spontaneität so frech und witzig waren, dass das Publikum raste: der damals 33jährige Rudi Pietsch.

Die Geige in der Volksmusik

Wir Kinder waren schwer beeindruckt. So kann man sich als Volksmusikant auf der Bühne bewegen? Warum können die so leichtfüßig und gleichzeitig so genial musizieren? Und überhaupt – seit wann kann man mit Geigen so eine wilde, unbändige Musik machen? Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt außer den drei originellen Siegenburger Musikanten, die an jenem Abend ebenfalls zu Gast waren, keine Gruppe gekannt, die mit Geigen Volksmusik machte. Dabei gab es in den vergangenen Jahrhunderten in Bayern durchaus interessante Streichmusikbesetzungen. Das bezeugen zahlreiche Notendokumente in den Archiven. Nur wurden die Geigen im Laufe der Zeit von neu- und weiterentwickelten Instrumenten wie der Klarinette oder den Blechblasinstrumenten und ihren neuen Möglichkeiten Anfang des 19. Jahrhunderts in den Hintergrund gedrängt. Harmonika-Instrumente waren auf dem Vormarsch und mit der einsetzenden Volksmusikpflege in Bayern kamen im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiedene Saiteninstrumente in neuartigen Besetzungen in Mode. Die Geige wurde, wenn überhaupt, in der klassischen Art gespielt oder fand ohnehin hauptsächlich in der Hochkultur statt – nicht mehr im Wirtshaus oder auf dem Tanzboden, wo eben andere Techniken und Spielstile vonnöten sind als auf der klassischen Bühne. Und da trafen Gruppen wie die Steirischen Tanzgeiger in den 1980er Jahren einfach eine Marktlücke.

Erste Spielkurse in Bayern

Etwa zur selben Zeit ergaben musikwissenschaftliche Forschungen, dass im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert im Gebiet der heutigen Oberpfalz und den Nachbarlandschaften einst der Dudelsack gut 30% des damals gespielten Instrumentariums ausmachte. Der Volkskundler Walter Hartinger hat dies aus Musikerpatenten herausgelesen, staatlichen Konzessionen, die ein Musiker zur damaligen Zeit benötigte, um öffentlich mit seinem Instrument auftreten zu dürfen. Adolf Eichenseer nahm diese Tatsache in seiner Funktion als Bezirksheimatpfleger zum Anlass, einen Instrumentenbaukurs ins Leben zu rufen, bei dem der Böhmische Bock, die Drehleier und kleine Kontrabässe, sog. Bassettl gebaut werden konnten. Parallel dazu fanden entsprechende Spielkurse statt.

Weil die Forschungen außerdem ergaben, dass die Böcke hauptsächlich in Kombination mit Geigen gespielt wurden, lud Eichenseer auch einen Geigenreferenten zu diesen Kursen ein, der den Teilnehmern das tanzmusikantische Geigenspiel vermitteln sollte. Er holte dafür Rudi Pietsch aus Wien als Referenten zu den Kursen nach Pleystein und später Waldmünchen. Für mich und meinen Bruder war klar: Wir sind dabei!

Der Referent Rudi Pietsch

Rudis Kursarbeit? – Ein Gesamtkunstwerk. Er produzierte nicht nur einfach Töne auf seiner Geige, sondern unglaubliche Dinge, die irgendwo zwischen den Tönen zu passieren schienen. Die Methodik – ihm wahrscheinlich selbst nie ganz klar – war eine nicht zu beschreibende Mischung aus Theatralik, wundersamen Geschichten, ernsthaften Ansprachen und bizarrer Komik. Wir Teenager saßen mit offenen Mündern da, lauschten staunend dem Wiener Schmäh, konnten uns immer wieder totlachen über die Tatsache, dass man einen billigen Klappstuhl als »Sessel« bezeichnen konnte. Lehnte sich irgendjemand im Kursgeschehen womöglich in ebendiesen »Sessel« zurück oder begann gar zu gähnen, sprach er von »Gnade, Musik machen zu dürfen« und ließ uns mantraartig im Kollektiv den Satz »Ich will spielen!« aufsagen. Und keiner wusste genau, ob das nun spaßig gemeint war oder eher nicht.

Die Kursarbeit hatte trotz allen Humors eine große Ernsthaftigkeit, war extrem fordernd, anstrengend. Rudi gab sich nicht so schnell zufrieden. Die richtige Interpretation eines einzigen Taktes konnte gefühlt Stunden in Anspruch nehmen. Blumige Vergleiche, wie die wenigen Töne zu nehmen seien, arteten aus zu Seriengeschichten, die uns in andere Welten entführten, an deren Ende er aber doch irgendwo wieder beim eigentlichen Ausgangspunkt herauskam – um schließlich festzustellen, dass wir beim nächsten Versuch es richtig zu machen, über diesen verflixten Takt wieder nur mit Mühe und eigentlich ungenügend hinweg gekommen waren.
Nicht jeder und jede kam mit dieser Methode zurecht – das muss ehrlicherweise auch erwähnt werden. Für manche zarten Gemüter hatte er ein Rädchen zu viel am Laufen, war die entgegengebrachte Energie bisweilen auch eine Spur zu wuchtig. Nicht so bei uns Jungen. In der Kaffeepause skizzierte er uns nebenbei die zweistimmige Fassung des Stücks, an dem wir am Nachmittag gearbeitet hatten, auf einen Zettel. Noten hatte er meist keine dabei, musiziert wurde immer auswendig. Später am Abend saßen die Kursteilnehmer gemütlich zusammen. Die Instrumentenbauer – den ganzen Tag hart in der Werkstatt arbeitend – hatten Lust ihre schmerzenden Glieder beim Tanz etwas zu entspannen. Wer macht Musik? Rudi war bereit. »Häng di ån!«, rief er mir zu und fiedelte mit seiner Geige wild drauf los. Ich wusste zwar, dass ich jetzt ohne langes Wenn und Aber eine zweite Stimme zu dem produzieren sollte, was er vorgab, hatte damals aber noch keinen blassen Schimmer davon, wie ich das – ohne die Stücke zu kennen – machen sollte. Im ersten Moment dachte ich mir damals: »Der spinnt!« Andererseits war ich sehr stolz, dass der Meister mir diese Fähigkeit offenbar zutraute und ich wollte die Herausforderung natürlich schon annehmen. Nur jetzt nicht kneifen!
Und irgendwie hatte es funktioniert. Diese unermüdliche Bereitschaft und Lust, Menschen zu ihrem musikalischen Glück verhelfen zu wollen, kann ihm wirklich nicht hoch genug angerechnet werden. Er hätte sich damals auch einfach einen erfahrenen Musiker schnappen und mit ihm den Abend über Spaß beim Musizieren haben können. Mit mir musste er viele Lücken, unpassende Töne und eben nur zaghafte Versuche einer zweiten Stimme ertragen. Trotzdem habe ich an diesem Abend in einer Hau-​Ruck-​Aktion meine Scheu vor dem Einfach-​Drauf-​Los-​Musizieren im Schnellverfahren überwunden.
Das, was hier ein ganz persönlich erinnertes Stimmungsbild ist, haben im Laufe von Jahrzehnten wohl viele Geigerinnen und Geiger in Bayern in ähnlicher Weise erleben dürfen. Übrigens nicht nur diese – auch Bassisten, Harmonikaspieler, Bläser konnten von ihm eine Menge lernen.

Die Entwicklung einer Streicherszene in Bayern

Mit den Jahren war Prof. Dr. Rudolf Pietsch zum gefragten Mitarbeiter in Forschung und Lehre am Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien avanciert und war mit seinen Tanzgeigern aus Wien ein vielumjubelter Gast, auch in Bayern. Viele pilgerten zu ihm auf die Lehrgänge, begierig darauf, von seinem Wissen, seinem Können, seiner Faszination profitieren zu können.

Eine rege Streicher-​Seminar-​Szene entwickelte sich auch hier in Bayern, seine Schüler als Lehrer – und er immer wieder als Gastdozent mit dabei, zuletzt 2018 bei den Seminaren der Bezirke Oberpfalz und Niederbayern in Alteglofsheim und des Bezirks Schwaben in Violau.
Inspiriert von seiner Arbeit kam es zu Gründungen von Streichmusikgruppen, die da hießen Plammerberg Muse, Schreinergeiger, Schanzgeiger oder Streichhölzer. Später wurden Formationen wie Zwirbeldirn, die Oberallgäuer Tanzgeiger, Oane wia koane oder die Familienmusik Althaus von ihm beeinflusst. Die Liste wäre sicher noch weiterzuführen.
Sie alle haben auf ihrer Suche nach einem individuellen Personalstil, nach eigenem Repertoire dennoch dem Vorbild nachgeeifert und stilistische Eigenheiten übernommen. Rudis Handschrift war unverkennbar. Nicht allen gefiel das. In der bayerischen Volksmusikpflege wurde die positive Entwicklung der Streichmusikszene in Bayern zwar wohlwollend betrachtet. Was die musikalische Interpretation dieser Gruppen anging, rümpften manche Pflegepäpste jedoch bisweilen die Nase: »Es pietschelt!« Sollte heißen: Man muss nicht alles nachahmen, was der Exot aus dem Ausland vorgibt, wir haben schon selber auch was zu bieten! Uns jungen Wilden damals war das egal. Für uns war »es pietschelt« eine Auszeichnung, von der wir nur zu träumen gewagt hatten und die einfach nur hieß »Gut gemacht – wird scho!«

Das gemeinsame Repertoire

Von einem Phänomen kann man sprechen, wenn es in der bayerischen Streicherszene mittlerweile ein Repertoire an Stücken gibt, die einfach jeder und jede kennt, weil Rudi Pietsch sie in seinen Kursen immer wieder vermittelt hat oder weil man sie sich von LPs und CDs der Tanzgeiger heruntergehört hat. Da kann beispielsweise auf dem Volksmusikfestival drumherum in Regen ein sich womöglich nicht einmal persönlich bekannter Kreis an Streichern ohne größere Probleme miteinander musizieren. Schnell findet sich ein kleines, überschaubares Repertoire, das jeder draufhat – und los geht’s. Ohne Noten, wohlgemerkt.

Was aber vielleicht nicht alle mitbekamen: Rudi Pietsch vermittelte bei seiner Lehrtätigkeit in Bayern beileibe nicht nur Stücke aus seinem österreichischen Erfahrungsschatz. Meinen ersten Oberpfälzer Zwiefachen aus der Sammlung Felix Hoerburger habe ich von Rudi Pietsch gelernt. Er war also durchaus bemüht, den Kursteilnehmern auch die Musik ihrer eigenen Region nahezubringen.

Neugier und Reflexion

Wobei wir schon beim nächsten Thema wären: Rudis ungebremste Neugier und Begeisterungsfähigkeit für alles und jedes, sollte es auch noch so unscheinbar und belanglos wirken. So gab es kaum eine Kurswoche, auf der er nicht irgendwann einen Ausflug zu interessanten Musikantenpersönlichkeiten in der Gegend unternahm. Immer war er neugierig auf die örtlichen Traditionen. So kann ich mich z. B. an eine gemeinsame Fahrt vom Lehrgang in Pleystein aus ins oberpfälzisch-​mittelfränkische Grenzgebiet in ein Dorf namens Oed erinnern, wo er die eben von der Volksmusikpflege entdeckten Juramusikanten treffen wollte. Auch auf den Kursen in Waldmünchen blieb es nicht aus, dass man am Neujahrstag über die Grenze ins nahe Tschechien fuhr, um dort in den Nachbarorten böhmischen Musikanten zu begegnen, von denen man vom Hören-​Sagen wusste. Musik kennenlernen, die Menschen dahinter, den größeren Kontext, in den alles eingebettet ist – das war sein Antrieb. Später hat er einige dieser Musikerpersönlichkeiten auf Exkursionsfahrten mit seinen Studierenden wieder besucht.

Die Rolle des Prímás

Rudi Pietsch gab beim Musizieren, beim Vermitteln von Musik immer alles. Er war voll im Augenblick präsent, alles und alle um ihn herum wahrnehmend und wertschätzend. Wichtig war ihm dabei immer der einzelne Mensch und natürlich sein Publikum. Als ich ihn in einem Interview einmal fragte, was denn einen guten Prímás, also einen guten ersten Geiger, einen »Anführer« der Gruppe ausmache, meinte er u. a.: »Die Umsicht, den Überblick haben, den Kontakt zu den Leuten, zum Publikum nie abreißen lassen, alle Bewegungen im Publikum erkennen, vorher vielleicht schon erahnen. Der Prímás hat zu suggerieren, dass er immer da ist für das Publikum, auch wenn es schon spät oder gerade Pause ist. Er hat in der Volksmusik dem Publikum gegenüber eine dienende Rolle einzunehmen.« Und zum Verhältnis zu seinen Mitmusikern sagte er: »Es ist ein gutes Gefühl, Verantwortung zu tragen und Führungsposition zugesprochen zu bekommen. Man bekommt sowohl von den mittragenden Musikern als auch vom Publikum sehr viel Energie zugespielt. Es ist ein gewisser Reiz nicht von der Hand zu weisen, dass die Lokomotive doch den Zug zieht, man spürt diese Wichtigkeit – man sollte aber nie vergessen, dass eine Lokomotive allein keinen Zug bildet.«

Charisma

Mit all diesen hohen Ansprüchen im Hinterkopf probieren viele Musiker ihren eigenen, von ihm inspirierten Weg zu finden. Andere wiederum versuchen ihm richtiggehend nachzueifern. Rudi Pietschs Einzigartigkeit wird allerdings nur schwerlich jemand erreichen. Dies lag nicht nur an seinem Können, seinem Wissen, sondern einfach an seiner unnachahmlichen Persönlichkeit. Ulrike Zöller fragte sich vor ein paar Jahren in einer ihrer Volksmusiksendungen im Bayerischen Rundfunk zum »Pietsch-​Phänomen« zu Recht: »Tagein, tagaus unterwegs auf Seminaren, Konzerten, Tänzen. Ein aufreibendes und hektisches Leben, das er nicht des Geldes wegen führt. Wie schafft er es nur, immer noch Charisma und jugendliche, lausbübische Lebensfreude auszustrahlen?«

Danke, Rudi…

Am 5. Februar dieses Jahres hat Rudi Pietsch nach schwerer Krankheit – »seine Geige für immer im Geigenkasten verschlossen«, wie es seine Tanzgeiger formuliert haben. Sein Jugendfreund und langjähriger Musikerkollege Hermann Härtel kokettierte beim Gedenkgottesdienst ihm zu Ehren im Benediktinerstift Göttweig bei Krems: »Sein weltliches Wirken war die Generalprobe für die Himmelfahrt.«

Wir Geigerinnen und Geiger hier in Bayern können dem Rudi einfach nur von Herzen »danke« sagen für alles. Für seinen unermüdlichen Einsatz, seine Liebe und Freude daran, uns seine Leidenschaft des Musikmachens weiterzuvermitteln, die enorme Inspiration und Motivation, die von ihm ausging, das Öffnen der Augen für so Vieles, auch über die Musik Hinausgehendes, unzählige Stunden wunderbarer Erinnerungen und schließlich dafür, dass er Motor für eine Entwicklung – auch hier in Bayern – war, an die er wahrscheinlich selbst nicht geglaubt hätte.
Seine Frau Margit – ihn nur allzu gut kennend – hatte auf der Homepage der Tanzgeiger treffend formuliert, dass es schien als hätte der Rudi mehrere Leben, »um sich in solchem Überfluss verausgaben, vergeuden, verschenken zu können.«