»Ausströmungen des reinen Gefühls«

»Ausströmungen des reinen Gefühls«

Justinus Kerner fand Seelenfrieden durch die Maultrommel

Text: Wulf Wager  Fotos: Wulf Wager, Kernerhaus, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Stadtarchiv Heilbronn

Die Maultrommel ist ein relativ altes Hosensackinstrument, das vermutlich aus Asien stammt und dort heute noch aus Bambus hergestellt wird. Sichere Nachweise aus unserer Gegend stammen vom Ende des 14. Jahrhunderts. Im Schutt der 1399 zerstörten Burg Tannenberg in Hessen wurden einige Exemplare gefunden. Dieses kleine faszinierende und einfach zu erlernende Borduninstrument aus Metall hatte seine Blütezeit im 18. Jahrhundert. Hergestellt hat man sie, wo immer man es verstand Metall zu bearbeiten. Molln in Oberösterreich, Zella-Mehlis in Thüringen und Riva in Italien waren und sind Zentren der Maultrommelherstellung. Beliebt war die Maultrommel auch als Ständcheninstrument. »Die Burschen zogen am späten Abend durchs Dorf und spielten am Fenster eines Mädchens«, schreibt der bayerische Maultrommler Fritz Mayr (1940–2020). Im Salzburgischen nannte man deshalb die Maultrommel auch Mentschafanga und im Steirischen Dirndllocka.

Znachst han i mei Trumml zupft
Zwischn die Zähnd
Und da is glei mei Diandl
Zun Fensta hergrennt.

Doch gehen wir einmal rund zweihundert Jahre zurück. Die Maultrommel war, wie die Glasharmonika und die Äolsharfe, ein äußerst populäres Instrument in der Romantik. Der schwäbische Dichter, Organist und Komponist Friedrich Daniel Schubart (1739–1791) schrieb über die Maultrommel: »Man spielt jetzt Sonaten, Variationen und was man will auf der Maultrommel. Ja man hat sogar gefunden, daß der Nachhall dieses verachtetsten Instrumentes unter die delikatesten Töne der Welt gehöre.« Einfach ländliche Weisen und ganze Konzerte, das waren die zwei Seiten der Maultrommel.

Sorgenbrecher und Seelentröster

Aber es gab noch eine dritte: In ganz anderem Zusammenhang benutzte Justinus Kerner (1786–1862) die Maultrommel: Sie war der Seelentröster für den schwäbischen Arzt, medizinischen Schriftsteller und Dichterfürsten. Und sie war Seelentröster für seine Patienten. Kerner erlernte in seinem fünfzehnten Lebensjahr durch seinen Bruder Georg das Maultrommelspiel. Kerner hat das Maultrommelspiel ziemlich schnell virtuos betrieben, er spielte auf zwei Instrumenten gleichzeitig und konnte diesem seltsamen Mauleisen anscheinend ganz erstaunliche Töne entlocken. Nach dem Schulbesuch in Ludwigsburg und Maulbronn wird Kerner Kaufmannslehrling, wiederum in Ludwigsburg. Er wohnt direkt neben dem Irrenhaus. Irgendwann ist er dann zu den Kranken hingegangen und hat mit ihnen geredet – und hat dabei eine für seine Zeit ganz unübliche therapeutische Kreativität entwickelt. Wenn aber alle solche therapeutischen Bemühungen nichts mehr halfen, dann also hat Justinus Kerner seine Maultrommel ausgepackt und wendete sie auch zur Behandlung von Kranken an. Einen Geisteskranken, der in wildem Wahn alles zertrümmerte, hat er mit seinen Brummeisenklängen wie ein Schlangenbeschwörer zu Ruhe und Frieden gesungen. In Italien heißt das Instrument scacciapensieri, was sinngemäß so viel bedeutet wie Sorgenbrecher.

Geistiger Hintergrund der Anwendung von Musik zur Heilung der Kranken war die von Franz Anton Mesmer (1734–1815) begründete Lehre vom »thierischen Magnetismus«. Kerner als Anhänger des Mesmerismus entwickelte die Anwendung von Musik weiter fort, wobei er anstelle der Glasharmonika und Äolsharfe die Maultrommel als Instrument einsetzte. Während seines Medizinstudiums in Tübingen führte Kerner im Rahmen seiner Doktorarbeit Verhaltensexperimente über die Wirkung der Töne auf verschiedene Tiere durch.
Die Musik gehörte untrennbar zu seiner Persönlichkeit, die ganz im Sinne der romantischen Vorstellung von der Verflechtung der Künste, Kraft und Originalität aus allen Künsten schöpfte. In Tübingen behandelte Kerner im Rahmen seines Studiums 1806 auch den Dichter Friedrich Hölderlin (1770–1843). Kerner schreibt in der Seherin von Prevorst: »Durch die Töne dieses Instruments ließ bei ihr sofort der fürchterlichste Krampf nach und sie kam aus ihm in einen hellwachen Zustand.«

Romantisch-​melancholisch

Justinus Kerner war extensiver Weintrinker und bevorzugte als hauptsächliches Getränk leichten Weißwein, dem er nicht gerade wenig zusprach – mindestens zweieinhalb Liter pro Tag – und das als Oberamtsarzt. Nach zweieinhalb Litern Wein kann man schon mal in romantisch-​melancholische Stimmung verfallen. Für Kerner war die Maultrommel deshalb nicht das Instrument für volksmusikalische ländliche Weisen oder Tänze. An seinen Tübinger Freund Ludwig Uhland (1787–1862) schrieb er 1809: »Und was wär’ ich, hätt’ ich nicht die Maultrommel, die einzige Freundin, der ich mein Herz ausschütten darf?«

Förderer eines Virtuosen

Justinus Kerner hat mit seiner Liebe zu diesem kleinen Instrument aber nicht bloß aufgescheuchte Seelen beruhigt, sondern auch eine kuriose kleine Episode in der Musikgeschichte losgetreten, denn von Weinsberg ging dann ein kurzzeitiger Maultrommel-​Trend durch die Konzertsäle Europas: In dem Heilbronner Eisenwarenladen nämlich, wo Kerner seine Brummeisen kaufte, arbeitete als Lehrling ein Mensch namens Eulenstein, und der war so fasziniert von Kerners Maultrommelspielen, dass er nach Weinsberg kam, um sich das beibringen zu lassen.

Karl Eulenstein, auch Charles Eulenstein (1802–1890) interessierte sich früh für Musik, erlernte das Geigenspiel und wollte Musiker werden, wurde aber von seinem Vormund zu einer Lehre in dem Heilbronner Handelshaus gedrängt, wo er Kerner traf, der ihn mit dem Maultrommelvirus infizierte. Kerner förderte ihn später durch Empfehlungsschreiben in seiner Laufbahn. Er widmete ihm die lyrische Huldigung Auf Eulensteins Spiel auf der Maultrommel in der Nacht und verschaffte ihm eine Konzertkarte für ein Maultrommel-​Konzert des Salzburgers Franz Koch (1759–1830), der als Meister des Instruments galt. Eulenstein übte unterdessen in seiner Freizeit selbst das Maultrommelspiel, modifizierte seine Instrumente und komponierte bald eigene Melodien.

Und so führte das fleißige Üben auf dem Brummeisen zu großem Erfolg. Kerner hat ihn gefördert und zusammen mit seinen Dichterfreunden eifrig Networking betrieben, und auf einmal war Karl Eulenstein doch tatsächlich ein in ganz Europa eingeladener, gefragter Maultrommel-​Virtuose, der von Friedrich Silcher (1789–1860) auf der Gitarre begleitet und von Berühmtheiten wie Gioachino Rossini (1792–1868) bewundert wurde. Karl Eulenstein galt um 1830 als der beste Maultrommelspieler seiner Zeit. Er spielte bis zu 16 verschiedene Maultrommeln, die er ohne merkliche Unterbrechung des Spiels wechseln konnte und so einen Tonumfang von vier Oktaven erreichte. Die Literary Gazette schrieb 1833: »Es ist unwahrscheinlich, einen Nachfolger zu finden, welcher einen Vortrag in dieser Weise bieten wird.« Kurz darauf endete seine Karriere abrupt wegen Zahnproblemen, die er sich durch das intensive Spiel auf der Maultrommel zuzog. Ihm sind die Schneidezähne ausgefallen.

Schwäbische Dichterschule

Zurück zu Justinus Kerner: Bereits zu Studienzeiten war er mit Ludwig Uhland, Karl Mayer (1786–1870), Gustav Schwab (1792–1850) und Karl Heinrich Gotthilf von Köstlin (1787–1859) befreundet, woraus sich später der Kern der Schwäbischen Dichterschule entwickeln sollte, zu deren namhaftesten Vertretern Kerner gehörte. Am gegenwärtigsten ist Kerner als Lyriker. Einige seiner Gedichte sind fast anonymes Volksgut geworden. So etwa das von Robert Schumann (1810–1856) vertonte Wanderlied, Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein oder die württembergische Nationalhymne Preisend mit viel schönen Reden. Allen Gedichten Kerners ist der volkstümliche Ton gemeinsam. Kerner selbst sah sich durchaus als Volksdichter, wenn er sich sehr bewusst in Gegensatz stellt zu den gelehrten, den metrisch und rhetorisch oder den humanistisch antiquarisch brillierenden Poeten.

Wein und Brummeisen

Justinus Kerner hat bis in die späten Jahre seines Lebens auf seinen geliebten Maultrommeln gespielt, auch immer wieder für Patienten mit psychischen Störungen. Auf dem Porträt in Öl, das im Kernerhaus in Weinsberg hängt, hat er sein Lieblingsinstrument in der Hand. Er hat das schlichte Instrument in den höchsten Tönen gerühmt, weil es der Phantasie freien Lauf lasse. Die Maultrommel sei, so erläutert er einmal, besonders geeignet, »Ausströmungen eines reinen Gefühls in Tönen besserer Welten darzustellen, wie die Äolsharfe die Gefühle des Frühlings und der gestirnten Nacht«. Im Bilderbuch aus meiner Knabenzeit schreibt Kerner: »Ich brachte es so weit, dass ich mein tiefstes Inneres, mein ganzes Gemüt, meinen Kummer, jeden leisen, ungeborenen Seufzer in die Töne dieses Instruments legen konnte. Es klang bei mir wie die Töne einer Äolsharfe, die vor allen den tiefen Schmerz, der in der Natur liegt, ausdrücken. So konnte ich, wie die Natur die Saiten der Äolsharfe, in die Zunge dieses Instrumentes all die Trauer meines Herzens legen …«. So hat Kerner, nach dem 1929 eine neue Rebsorte (eine Kreuzung aus Trollinger und Riesling) benannt wurde, seinen Seelenfrieden im Spiel auf der Maultrommel gefunden – und im Weißwein.

 www.kernerundfrauenverein.de

Auf Eulensteins Spiel auf der Maultrommel in der Nacht

Kommt von Bienen, was ich höre?
Nächtlich schwärmen Bienen nicht!
Ha! nun tönt’s wie Geisterchöre
Harter Sylphen leis und licht;
Lauter jetzt, wie Harfen klingen,
Sanft berührt von Windes Schwingen.
Und aus diesen Tönen heben
Sich Gestalten zart und klar,
Sterne, Blumen seh’ ich schweben,
Zauberzeichen wunderbar.
Schaffet Licht, auf daß wir finden,
Welch ein Zauber uns will binden.
Ha! es ist mit seinem Eisen
Eulenstein, der gute Geist,
Der durch überird’sche Weisen
Uns ins Land der Geister reißt.
Doch er schweigt, und langsam wieder
Sinken wir zur Erde nieder.

Justinus Kerner, Die lyrischen Gedichte, Stuttgart 1854.

Literaturhinweise und Quellen

Fritz und Helmuth Mayr, Musizieren auf der Maultrommel – Eine Spielanleitung der Brüder Mayr, München 1990.
Josef Klima, Spielanleitung für die Maultrommel, München 1980.
Bettina Winkler, Schwabenstreiche – Ausfahrten in romantischer Seelenlandschaft mit Kerner, Uhland, Mörike und den Freunden (SWR 2 Manuskript), Stuttgart 2010.
Gunter Grimm, »Der gute Mensch von Weinsberg«, in: Die Brücke zur Welt, Sonntagsbeilage der Stuttgarter Zeitung, 13.9.1986, Nr. 211.