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Dieser Artikel stammt aus akkordeon_magazin, Heft #06 vom Januar/Februar 2009.
Otto Lechner
Weltmusik aus der Quetschkommode
Text: Katja Brunk; Fotos: Katja Brunk, privat
„Für mich ist es meistens eine Gnade, interviewt zu werden. Da sparst du dir die ganzen Therapien und so. Wann stellt dir sonst schon einmal jemand die Frage: Was denkst du über dies oder was hältst du von jenem? Das ist eigentlich ein Luxus, den nur wenige Leute haben.“ Otto Lechner kann diese Art von Luxus schon des Öfteren genießen. In Österreich ist er eine kleine Berühmtheit, wie er nach kurzer Überlegung selbst eingestehen muss – und das nicht nur, weil er blind ist. Zu seinem Akkordeon hat er eine ganz besondere, lebendige Beziehung. „Mein Akkordeon würde mich wohl als kauzig bis unberechenbar bezeichnen, wenn es könnte“, gibt er schmunzelnd zu. Und man glaubt es ihm aufs Wort, so wie er da sitzt – in einem roten Anzug, seiner Sonnenbrille und einer quadratischen und orientalisch aussehenden Ledertasche um den Hals.
Während er erzählt, sind seine Hände unentwegt aktiv, immer wieder zwirbelt er seine Haare mit den Fingern. Die Beziehung zu seinem Instrument ist allerdings nicht immer einfach. „Am wunderschönsten ist ja, wenn man das Gefühl hat, das bewegt sich von selbst. Aber dann gibt’s auch das Gegenteil, dass man versucht, mit aller Kraft besondere Dinge zu erreichen. Manchmal denkt man, man hälts überhaupt nicht aus in seiner Begrenztheit und manchmal ist es einfach entzückend. Man könnte von einer Art Hassliebe sprechen.“ Meistens überwiegt dann aber doch die Liebe zum Instrument, und das merken auch seine Zuhörer.
Begeisterung, als wärs das erste Mal
Das Konzert im Oval in Salzburg ist ausverkauft. Das Publikum kennt Lechner und freut sich schon auf sein Weihnachtsprogramm zusammen mit den Bethlehem Allstars. Hinter den Kulissen verrät er: „Ich machs ja gern, aber diese Weihnachtsliedergeschichte spiel ich jetzt seit zehn Jahren. Das ist nicht unbedingt mein Stil, eine Geschichte so lange durchzuziehen.“ Auf der Bühne lässt er sich das aber nicht anmerken. Mit einer Begeisterung, als ob es das erste Mal wäre, dass sie dieses Programm spielen, schafft es die Gruppe, das Publikum zu faszinieren. Schon die weihnachtliche Stimmung im Einkaufscenter, in dem sich die Konzertbühne befindet, stimmt auf das Konzert ein. Hier ist auch nicht die Salzburger High Society zu Gast, sondern bunt gemischte Menschenmengen. Fans, die jedes Konzert von Lechner besuchen, das in ihrer Nähe stattfindet, aber auch Familien, die sich nach dem vorweihnachtlichen Einkaufsbummel spontan entschlossen haben, den Tag mit unterhaltsamer, aber auch besinnlicher Musik ausklingen zu lassen.
Das Akkordeon und Lechner sind unzertrennlich
Weihnachten war auch die Zeit, als Lechner seine Liebe zum Akkordeon entdeckt hat. Als er drei oder vier Jahre alt war, lag für ihn eine Spielzeugziehharmonika unter dem Weihnachtsbaum. Seit dem sind er und seine im Laufe der Jahre hinzugekommenen Instrumente fast unzertrennlich, dennoch bezeichnet er sich nicht als süchtig nach Musik. Er kann auch problemlos mal eine Weile ohne auskommen, auch wenn sie ihm vor allem früher half, leichter Kontakt zu seinen Mitmenschen zu bekommen. Er ist in einem kleinen österreichischen Dorf aufgewachsen und war zwar als Behinderter gut integriert, aber trotzdem auch viel alleine. In seiner Umgebung gab es kaum jemanden, der sich für Musik interessiert oder sie gar selbst gemacht hätte. Da kam es ihm gerade gelegen, dass das Akkordeon „ein kleines, sich selbst begleitendes Orchester“ ist. So konnte er problemlos alleine ein Publikum unterhalten und spielte oft in Wirtshäusern. Noten hatte er keine, er hat sich Platten und Radio angehört und sich die Stücke einfach gemerkt und nachgespielt. Auch einen Lehrer hatte er nie, „das war immer ein Selbstexperiment“, erzählt er. Und es ist geglückt, bis heute. Die Blindennotenschrift lernte er erst mit 20 aus reinem Interesse am System. Mit einer Hand lesen und der anderen spielen funktioniere nicht und so nutzt er die Braille-Notenschrift nur, wenn er einen seiner „raren melodischen Einfälle hat, wo ich mir denk, das müsste jetzt festgehalten werden.“ Heute muss er nur noch üben, wenn er spezielle Projekte ausprobiert, wie zum Beispiel Vertonungen von Texten Franz Kafkas. „Damit setze ich mir immer wieder spannende Aufgaben, damit ich mich nicht im Kreis bewege.“ Er möchte nicht auf der Stelle treten. Musikalisch ist er da nicht festgelegt. Er komponiert und spielt Jazz genauso wie Kammermusik oder Walzer. „Ich komponiere manchmal so eigenartig schrullige Walzer, die man als Kriegserklärung an den Walzer interpretieren könnte. Das ist aber nicht so, sondern es ist ein Verarbeiten von Eindrücken, die ich mit meiner eigenen Persönlichkeit durchsetze.“ Alles, was er macht, hat eine sehr persönliche Note. Der kleine Mann mit der Sonnenbrille besitzt eine große Aura, die sich in all seinen Projekten widerspiegelt.
„Mit schicken Sportwagen quäle ich mich nicht“
Mittlerweile ist er der österreichischen Provinz entflohen und wohnt schon lange in Wien. Er kann von seiner Musik leben und betont, dass er sowieso keine besonders hohen Ansprüche hat. Mit Luxusgütern wie schicken Sportwagen quäle er sich nicht. Damit könne er sowieso nichts anfangen. Er hat viele Gleichgesinnte gefunden, die ihn nicht nur musikalisch auf der Bühne unterstützen. Ganz selbstverständlich greift ihn sein Gitarrenkollege aus der Band unter dem Arm, bringt ihn in die Garderobe zum Interview, stellt eine Flasche Bier neben ihn und bringt ihn anschließend zum Konzert auf die Bühne. Trotz seiner fürsorglichen Kollegen spielt Lechner auch gerne solistisch. „Im Moment sind mir die Solo-Auftritte ein bisschen zu wenig. Die würde ich eigentlich gern mehr machen. Da haben irgendwie gerade diese Ensemblegeschichten Oberhand gewonnen.“ Mit verschmitztem Grinsen fügt er hinzu: „Auch wenn ich dann doch wieder etwas üben müsste.“
Üben, komponieren, kreativ sein – das macht er am liebsten in seiner Junggesellenwohnung, die er jetzt schon seit über 20 Jahre besitzt.
Wenn er einmal die Nase voll von seinem Akkordeon hat – und das kommt durchaus einmal vor – dann macht er etwas mit elektronischer Musik oder spielt eine Weile nur Klavier. „Es ist immer ein sich gegenseitiges Befruchten, wenn man mal andere Instrumente spielt“. Neben den Tasteninstrumenten spielt er auch noch diverse exotische Instrumente. Aber seine Liebe zum Akkordeon hat immer wieder gesiegt, genauso wie seine Liebe zur Heimatstadt Wien. Als er mit seiner Frau Anne Bennent zusammen kam, hatten sie eigentlich vor, aus Wien wegzuziehen. Sie wollten sich einen anderen Platz zum Leben suchen, der sich dann für sie aber doch nicht gefunden hat. „Was ich besonders mag an der Stadt ist, dass sie nicht so besonders ist. Das schöne dort ist, dass die meisten eher so durchschnittlich bis schlecht drauf sind. So kannst du, wenn du einen guten Tag hast, ganz leicht ein bisschen Freude vermitteln.“ Aber ein bisschen greulich findet er Wien auch. „Was einem wahnsinnig auf die Nerven gehen kann ist das Problembewusstsein, das man dort hat. Probleme sind dort nicht dazu da, sie zu lösen, sondern Probleme sind einfach Probleme, da kannst nix machen.“ Zögernd fügt er hinzu: „Eigentlich erzählt man ja über sich selbst, wenn man über die Stadt redet, in der man schon so lange lebt. Die Eigenschaften, die ich Wien zuordne, sind wohl meine eigenen.“ Er wirkt zunächst ein bisschen nachdenklich, aber schnell merkt man, dass er sehr gut über sich selbst lachen kann.
Ein vielseitiger Mensch
Das, was ihn an Wien immer fasziniert hat, war hauptsächlich das Nachtleben. Aber bis tief in die Morgenstunden feiert er heute nicht mehr. So bleibt hauptsächlich die schlechte Luft einer Großstadt. Deshalb haben er und seine Frau sich nun ein altes Häuschen auf dem Land gekauft, es hergerichtet und ziehen nun Mitte des Jahres dort ein. Ein bisschen mehr Ruhe, Landleben und auch wieder die Möglichkeit, seinen Hobbies nachzugehen, die er neben der Musik noch hat. „Aus organisatorischen Gründen hatte ich mit dem Reiten aufgehört, werde aber wieder damit anfangen, sobald ich auf dem Land wohne. Ich wandere auch sehr gerne. Und ich muss sagen, ich sitze auch gerne am Computer und arbeite.“ Er ist nicht nur musikalisch ein vielseitiger Mensch.
Der Musik bleibt er natürlich trotzdem treu und seine nächsten Projekte sind schon in vollem Gange. Für die Eröffnung des Akkordeonfestivals in Wien will er ein Akkordeonorchester zusammenstellen mit Akkordeonspielern aus Österreich. „Eigentlich hör ich nicht viel Akkordeonmusik, muss ich sagen, die meiste davon geht mir auf die Nerven. Aber jetzt muss ich mich mal wieder damit beschäftigen.“ Eine Lieblingsmusikrichtung hat er nicht, er hört immer das, was für ihn gerade aktuell ist. Momentan sind das Hadyn-Streichquartette. Zusammen mit Streichern will er Improvisationen darüber aufführen. „Akkordeon ist mit Streichern wunderwunderschön. Wirklich ein herrlicher Klang.“ Die Idee dazu kam von einem Wiener Musikwissenschaftler. „Der will mich gern ein bisschen bilden und meint wahrscheinlich, ich würde mich nur damit beschäftigen, wenn ich auch selber eine Performance machen muss. So hör ich jetzt halt Haydn“, lacht er. Auch eigene Kompositionen stehen auf dem Programm für 2009. Im Juni wird er einen Abend im Gläsernen Saal im Wiener Konzerthaus mit eigenen Kompositionen gestalten, bei dem das „ensemble xx. jahrhundert“ seine Werke aufführen wird.
Er hat schon viel erreicht und doch hat er noch einen großen persönlichen Wunsch. Er wünscht sich ein größeres Vertrauen von den Veranstaltern. Er hätte gerne, dass die sagen: „Der Otto Lechner macht was, der macht aber, was er will.“ Er möchte gerne frei gestalten können, ohne dass er schon zwei Jahre im Voraus wissen muss, was das sein wird. „Ich wünsche mir einfach die Freiheit, sagen zu können, dass das schon eine Qualität haben wird, was sie da zu hören bekommen.“ Und hören wird man von Otto Lechner garantiert noch viel.
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