Annette Thoma gehörte zu den Neugestaltern in der Volksmusikpflege
Text: Ernst Schusser Fotos: Salzburger Adventsingen, Sänger- und Musikantenzeitung
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Annette Thoma (1886–1974) maßgeblich an der Neugestaltung und der Breitenwirkung der oberbayerischen und alpenländischen Volksmusikpflege beteiligt. Sie gestaltete mit Tobi Reiser (1907–1974) die ersten Salzburger Adventsingen, die neben den von Kiem Pauli (1882–1960) gegebenen Impulsen Vorbild für unzählige Adventsingen in Oberbayern und darüber hinaus wurden. In den Freisinger Dombergsingen öffnete sie jungen Seelsorgern und Pfarrerstudenten den Weg zum geistlichen Volkslied und zur Volksmusik überhaupt.
Mit Wastl Fanderl (1915–1991) gab Annette Thoma ab 1958 die ersten Jahrgänge dieser Zeitschrift, als Sänger- und Musikantenzeitung heraus und versuchte schon im ersten Jahrgang mit programmatischen Beiträgen z. B. über Alpenländische Singwochen (im Heft 2), über das Kindersingen in Schule und Haus (im Heft 5) oder über Die stille Zeit (im Heft 6, mit einem Überblick über Singmöglichkeiten, Volksmusik und Bräuche im Advent) den Lesern und Volksmusikfreunden Orientierung, Information und persönliche Meinungen, selbstgestaltete Lieder und Spiele mitzugeben. Auch in den weiteren Jahrgängen steuerte Annette Thoma größere und kleinere Beiträge zum bunter werdenden Inhalt der SMZ bei– diese teils auch anonym als »Schriftleitung« oder als verantwortliche Redakteurin von Aufsätzen anderer Autoren. Darüber wird noch detailliert in den nächsten Artikeln der Serie Damals für heute zu berichten sein – auch über ihre geistlichen Lieder für Volksgesangsgruppen, die sie vielfach zuerst in der SMZ veröffentlichte.
Vom Brauchlied zum Vorsinglied – SMZ 1959
Schon am Domberg haben Kiem Pauli und Annette Thoma in den 1950er Jahren die Passions- und Osterlieder thematisiert und überlieferte und neuentstandene Lieder zur Karwoche und zum Osterfest im Gesang der Volksliedgruppen vorgestellt. In der SMZ bringt Annette Thoma schon im zweiten Jahrgang (1959) im Heft 2 für die Monate März und April einen Ruf zum Ostersonntag, der auf eine Aufzeichnung von 1937 im brauchtümlichen Singen im Burgenland zurückgeht (Zeitschrift Das deutsche Volkslied, 42. Jahrgang, Wien 1940, S. 31). Der Aufzeichner Adolf Fischer aus Marz kennt das Lied und seine Singgelegenheit im Osterbrauch: »Dieses Lied wird in Marz von zwei Männern in der Nacht zum Ostersonntag ›um den Ort gesungen‹. Es ist eine Verbindung des abgekommenen Nachtwächterrufes mit einem ›Oster- Auferstehungslied‹. Es sammeln sich dann die Frauen um 3 Uhr morgens und ziehen singend und betend zur ›Rinsalkapelle‹ bei Mattersburg, beten dort und kommen morgens, gegen halb 6 Uhr zurück.« Dieser Gang der Frauen erinnert an die Auferstehung Jesu und die Geschichte der Entdeckung des leeren Grabes durch Frauen, wie sie die Evangelisten schildern (Matthäus 28, 1–10; Markus 16, 1–8; Lukas 24, 1-–12; Johannes 20, 1–10). Annette Thoma bereitete dieses österliche Brauchlied für das Vorsingen und Zuhören in der Volksliedpflege auf.
Auch das sogenannte Karfreitagslied (2. Jg., Heft 2, S. 22) aus der deutschen Sprachinsel Gottschee mit dem markanten Textanfang »In der ganzen Stadt, da brennet kein Licht« entstammt im Original den Bräuchen der Leidensnacht Jesu vom Gründonnerstag auf den Karfreitag, die vielerorts mit (stündlichem) gemeinsamem Beten und Singen durchwacht wurde. Die Handwerker bereiten die Materialien für die Marter und das Sterben Jesu vor: Der Zimmermann das Kreuz, der Schmied die Nägel und der Binder die Dornenkrone – und eine menschlich-mitfühlende Stimme bittet darum, die Marterinstrumente nicht zu groß, zu spitz und zu grausam zu machen! Annette Thoma stellt von diesem gemeinschaftlich-brauchbezogenen Lied eine von ihr für den Gesang von dreistimmigen Volksliedgruppen hergerichtete Fassung zur Verfügung. Material zur Geschichte und zum Wandel dieses seit den 1950er Jahren bis heute in der oberbayerischen Volksliedpflege gebrauchten Liedes hat Eva Bruckner im Jahr 1996 in der Broschüre für eine Informationsfahrt mit ca. 50 Volksmusikanten Auf den Spuren von Karl und Grete Horak … in der ehemaligen deutschen Sprachinsel Gottschee im heutigen Slowenien (Volksmusikarchiv des Bezirks Oberbayern, München 1996, S. 207 ff.) zusammengestellt.
Passion und Ostern im März-April-Heft 1960/1961
Im 3. Jahrgang der SMZ (wieder Heft 2, auf den ersten Seiten) werden unter dem Titel Ostern und Frühling u. a. drei von Annette Thoma ausgesuchte und für dreistimmig singende Volksliedgruppen aufbereitete Lieder veröffentlicht: Da drunten auf Laub und Straßen stammt als Vorlage aus der Sammlung von August Hartmann und Hyacinth Abele (Volksschauspiele, 1880). Bei den Osterliedern Was ist nicht heut für eine heilige Nacht und Drei heilige Frauen gingen früh bezieht sich Annette Thoma auf die österreichischen Sammler Josef Pommer (1845–1918) und Karl Magnus Klier (1892–1966).
Auch im kirchenzeitlich passenden Heft 2 des 4. Jahrgangs der SMZ (1961) bringt Annette Thoma ein Osterlied, diesmal aus der Überlieferung am Ossiacher See in Kärnten (Slg. Karl Liebleitner): Christus ist erstanden. Dann folgen einige Jahrgänge ohne spezielle Passions- und Osterlieder. Wastl Fanderl nutzt die für die SMZ erstellten Notensätze der Lieder und fasst die fünf in den Jahrgängen 1959–1961 erschienen Lieder im Liederbogen 6 (Liednummern 30–34) zusammen, zum leichteren Gebrauch in Singstunden und als Vorlagen für Gesangsgruppen.
Ostersingtag im Bildungswerk Rosenheim 1960
Schon in den frühen 1950er Jahren haben vor allem Fritz Kernich (1907–1986) und Rosl Brandmayer (1905–2000) bei den Singtagen im Bildungswerk Rosenheim vereinzelt Passions- und Osterlieder einfließen lassen. Annette Thoma hat sich wohl von diesen Impulsen anregen lassen. Am 19. und 20. März 1960 fand dann im Bildungswerk Rosenheim der erste spezielle Ostersingtag statt, zu dem Kernich und Brandmayer ein eigenes Liederheft Die große heilige Woche mit Passions- und Osterliedern zusammenstellten, das vom Verlag Hasinger gedruckt wurde. Zugleich gab es eine Ausstellung Ostern in der Ostkirche.
Passions- und Osterliederheft 1973
Mit dem Bayerischen Landesverein für Heimatpflege gibt Annette Thoma auf Initiative von Geschäftsführer Kurt Becher (1914–1996), der schon in den 1960er Jahren eigene Passionssingen gestaltete, im Jahr 1973 – ein Jahr vor ihrem Tod – insgesamt 19 Passions- und Osterlieder aus dem bairisch-alpenländischen Raum heraus. Im Vorwort schreibt Annette Thoma auf der Basis ihres tiefen christlichen Glaubens und ihrer persönlichen Frömmigkeit:
»Die erschütternden Ereignisse der letzten Lebenstage unseres Herrn, wie wir sie in der Karwoche nacherleben, hat sich unser alpenländisches Volk auf seine Weise zu eigen gemacht. […] Heute wissen wir ja, daß all das Leiden der unerläßliche Durchgang zu des Herrn glorreicher Auferstehung war. Darum sind wir, auch in der Karwoche, weder enttäuschte, noch weinende Frauen noch verzweifelte Jünger oder verzagte Emmauswanderer. Die Lieder sagen uns, ›daß in dem bittern Kreuzestod schon leucht das Ostermorgenrot‹, oder daß wir den gegeißelten Heiland auf der Wies ›mit Freuden ansehn‹ dürfen, bis schließlich in der alles verklärenden Heiligen Osternacht […] die Freude voll aufklingt in dem österlichen Volkslied:
› Es freun sich die Stern am Firmament
und auch alle Element
Wasser, Feuer, Luft und Erd. ‹ «
Damit steht bis heute ein Standardwerk für die Singgruppen zur Verfügung, die die neuen Passionssingen mitgestalten wollen – oder die die Gottesdienste von Palmsonntag bis zum Osterfest mit passenden Liedern mitfeiern wollen. Schon ab 1960 gibt es Nachrichten von ersten, vorsichtig versuchten Passionssingen und Einsätzen dieser Lieder in Gottesdiensten. Zum Ende der 1960er Jahre gibt es dazu auch Ankündigungen in der SMZ im Veranstaltungsteil.
Wer war nun diese Annette Thoma?
Als Tochter von General Schenk wurde Annette Thoma 1886 in Neu-Ulm geboren. Sie war verheiratet mit dem Maler Emil Thoma (1869 –1948) und lebte in Riedering am Simssee. Der Erzählung nach hörte 1930 die Familie Thoma die Übertragung des Egerner Preissingens im Radio Deutsche Stunde in Bayern (Bayerischer Rundfunk). Voll Begeisterung für das von Kiem Pauli propagierte Volkslied wandte sie sich der Volksliedpflege zu. Als freie Mitarbeiterin schrieb sie Berichte über Sänger- und Musikantentreffen in den 1930er Jahren für verschiedene Zeitungen, so auch für die Münchner Neuesten Nachrichten. Damit hatte die junge oberbayerische Volksliedpflege eine engagierte Wortführerin in der Tagespresse.
Mit Kiem Pauli verband Annette Thoma seit 1932 eine enge Freundschaft. Auf seine Anregung hin beschäftigte sie sich mit dem geistlichen Volkslied und suchte vor allem aus österreichischen Sammlungen und der Zeitschrift Das deutsche Volkslied (Wien 1899ff) passende Lieder für die neuen Gesangsgruppen. Zudem gestaltete sie eigene Hirten- und Krippenspiele.
An Kiem Paulis Namenstag, am 29. Juni 1933 sangen die Riederinger Buam zum ersten Mal die Deutsche Bauernmesse, für die Annette Thoma überlieferte Melodien von geistlichen Liedern mit eigenen, zur Liturgie der 1930er Jahre passenden Texten unterlegt hatte. 1972 gestaltete sie die Kleine Messe. Nach der Liturgiereform des 2. Vatikanischen Konzils wollte Annette Thoma Mitte der 1960er Jahre ihre Deutsche Bauernmesse den neuen Anforderungen und Möglichkeiten des Messgesangs (z. B. Volksbeteiligung, Alleluja-Ruf) anpassen, doch die meisten Volksgesangsgruppen lehnten die Änderungen und Ergänzungen ab.
Erinnerungen von Pfarrer Otto Schüller
Bei den Feldforschungen während unserer Arbeit am Volksmusikarchiv des Bezirks Oberbayern haben wir versucht, das mündliche Wissen der Gewährspersonen auch im Bereich der Pflege des geistlichen Volksliedes zu dokumentieren. Neben vielen anderen Persönlichkeiten konnten Eva Bruckner und ich auf Vermittlung von Evas Mutter mehrmals auch mit Pfarrer Otto Schüller (1910–2001) Gespräche führen, der 1935 als Kaplan nach Berchtesgaden gekommen war (u. a. Gespräch vom 20.11.1990, Bezirk Oberbayern / Zentrum für Volksmusik, Literatur und Popularmusik, VMA-TFF-9015). Er erzählte über das Leben im Nationalsozialismus, in der Kriegszeit, den Anfängen nach dem Zweiten Weltkrieg, über Gottesdienste, Volksglauben, Bräuche, den Bau von Weihnachtskrippen und neue Entwicklungen wie die ersten Adventsingen in Berchtesgaden und die dann aufkommende Vielzahl der Adventsingen in den Nachbarorten und in der Region. Er machte sich Gedanken über die Situation der Amtskirche, aufkommende Probleme, neue Möglichkeiten von geistlichen (Volks-)Liedern und die Alternative zu den Adventsingen: Mit seinem ehemaligen Ministranten Franz Niegel kam er auf die Idee, mit geistlichen Volksliedern und Volksmusik in seiner Berchtesgadener Stiftskirche und seiner Seelsorgearbeit der Passion Jesu zu gedenken – auch als Fortführung der Adventsingen, und doch wieder ganz anders. Erste Versuche geschahen wohl um oder vor 1960. Der junge Pfarrer Franz Niegel brachte seine Erfahrungen von den Dombergsingen mit dem Kiem Pauli und vielen anderen Sängern und Musikanten ein – und den intensiven Kontakt mit Annette Thoma. Somit kam es am Palmsonntag 1966 dann zum wohl ersten Passionssingen mit Volkslied- und Volksmusikgruppen in der Region.
Erstes Passionssingen in Berchtesgaden 1966
Zum 70. Geburtstag seines Berchtesgadener Heimatpfarrers Otto Schüller im Jahr 1980 gibt Franz Niegel (1926–2017, damals Pfarrer in Unterwössen) in kleiner Auflage die meist privat verbreitete Broschüre Berchtesgadener Passionssingen heraus und blickt auch auf das erste Passionssingen 1966 zurück:
»Es ist nicht leicht, die Anfänge der Passionssingen zu ergründen. Es führen Spuren nach München, wo der Bayerische Landesverein für Heimatpflege am 9. April 1960 in der St. Georgs-Kirche, Bogenhausen, ein Passionssingen gehalten hat. Karl Edelmann hatte mit dem Kiem Pauli (+1960) noch ein Programm dafür ausarbeiten können.
Eine andere Spur führt nach Rosenheim, wo ebenfalls 1960 Studienprofessor Brandmaier einen Singtag mit ›Volksliedern zur Passions- und Osterzeit‹ hielt. Dabei wurden etwa zehn Lieder gesungen, die in einem kleinen Heft zusammengefaßt waren.
Der Weg führt auch zu Wastl Fanderl, der fünf Passions- und Osterlieder in seiner Liederbogenreihe (Nr. 6) herausgegeben und auf Singwochen gesungen hat.
Seit dieser Zeit gibt es viele Passionssingen in unserem Land. Die Fischbachauer Sängerinnen zum Beispiel haben an zwanzig Orten gesungen. Einer davon ist Berchtesgaden.
Annette Thoma hat 1966 das Programm gemacht und die Texte geschrieben. Sie hat mit diesem Modell die Passionssingen der folgenden Jahre wesentlich beeinflußt. In dem Text, den wir hier zum ersten Mal im Original abdrucken, ist eine Theologie erkennbar: zunächst welche Rolle das Volk bei der Passion Jesu gespielt hat. Dann, was der Glaube der Jahrhunderte in unserer Heimat an künstlerischem Ausdruck dazu geschaffen hat. Entsprechend der Neubesinnung in der Kirche, daß Tod und Auferstehung des Herrn eine Einheit bilden, hat sie diese Theologie ihren Passionssingen zugrunde gelegt.
Vom Volkslied her gesehen, war es Annette Thoma daran gelegen, daß das geistliche Lied nicht nur im Advent, sondern auch zu anderen Zeiten des Kirchenjahres wieder lebendig wird. So hat sie mit dem Bayerischen Landesverein für Heimatpflege noch 1973 – ein Jahr vor ihrem Tod – die ›Passions- und Osterlieder aus dem baierisch-alpenländischen Raum‹ herausgegeben. Eine Sammlung von 19 Liedern aus Bayern, Südtirol, Steiermark, Kärnten, Niederösterreich, Hallein, aus der Gotschee und aus dem Burgenland. Wir danken es Annette Thoma, daß sie mit dieser Liedsammlung unseren Gruppen und Chören neue Anregungen gegeben hat.
Geistlicher Rat Pfarrer Otto Schüller war einer der ersten, der diesem Volkslied wieder den angestammten Platz in der Kirche gegeben hat.«
Mit besonderer Ankündigung und lokaler und regionaler Werbung kam es am Palmsonntag, den 3. April 1966 zum ersten sogenannten Passionssingen mit geistlichen Volksliedern und Volksmusik in der Stiftskirche Berchtesgadenen. Die vortragenden Sänger und Musikanten kamen aus der Feldwies bei Übersee (Alphornbläser, Männer-Viergesang), Schönau bei Berchtesgaden (Stubenmusik-Trio), Traunstein (Männer-Dreigesang), Fischbachau (Frauen-Dreigesang), Rupertiwinkel (Stubenmusik), Markt Berchtesgaden (Männer-Dreigesang), Inzell (Gemischter Viergesang) und Frasdorf (Harfe). – Pfarrer Schüller sprach ein Gebet und gab den Schlusssegen.
Annette Thoma hat eng mit Franz Niegel und Otto Schüller den Ablauf (gut 1 Stunde) abgestimmt und zwei von ihr formulierte Texte gesprochen (siehe Text I unten). Die vorgetragenen Lieder hat sie aus ihrem eigenen Fundus und dem Liederheft des Bildungswerks Rosenheim ausgewählt: Als Jesus in den Garten ging, Auf dem Ölberg ist die Stätten, Was schleppt in Hass und Grausamkeit und Schönster Heiland auf der Wies kamen zu den schon oben beschriebenen, in der SMZ veröffentlichten Liedern dazu. Pfarrer Schüller sind hierbei schon einige gegenüber den Aufzeichnungen veränderten Texte aufgefallen. Besonders manche Gedanken des von Annette Thoma neugemachten Liedes von der Osternacht, das die Markterer Sänger neu eingelernt hatten, haben ihn beeindruckt.