Das Akkordeon "jazzt"

Das Akkordeon "jazzt"

Swingende Songs, energischer Bop, Bluestöne, komplexe Rhythmik, einfallsreiche Improvisation, anspruchsvolles Solospiel, Jazz integriert all das, verknüpft sich hier weiter zur Weltmusik, dort zur Rock Fusion, anderswo zum klassisch untermauerten Kammerjazz. Es zeigt sich ein enormes Spektrum, in dessen swingenden Anfängen das Akkordeon durch musikalische Pioniere schon in den 1930ern mitmischte. Seitdem hat es über die Jahrzehnte vieles mitgeformt. Wir folgen den Spuren der frühen Swing-Akkordeonisten bis zu den innovativen, stilintegrierenden Jazzakkordeonisten von heute.

 

Text: Christina M. Bauer

Fotos: Accordions Worldwide, Archiv Frank Marocco, Jacky LePage, Dean Bennici, Bremme und Hohensee, Steven Haberland, Bobby Kay, Andreas Hinterseher, Michael Reidinger, Jimmy Träskelin, Rolf Schoellkopf, Guy Klucevsek, Cory Pesaturo.

Findig, kreativ und erneuernd, voller Energie und künstlerisch anspruchsvoll - wie kaum eine andere Musik integriert Jazz all diese Charakteristika. Buchstäblich jede moderne Musik von R&B über Rock bis Hip-Hop ist durch Jazz mitbeeinflusst. Die markante Phrasierung, die charakteristischen Harmonien und Blues-Töne, die in der afrikanischen Tradition begründete Rhythmik, die Kultivierung des freien Solo-Spiels, und der Improvisation, von der Solo- bis zur interaktiven Ensemble-Improvisation, all diese Facetten verbinden sich im Jazz. Diese Musik hat eine enorme Kraft zur Erneuerung. In allen Stilen, sei es im frühen Swing, Bebop oder Cool Jazz, und all den modernen Variationen, die sich dort zum Straight Ahead Jazz entwickeln, anderswo zur Rock Fusion verknüpfen, zu Weltmusik und World Jazz entfalten, oder faszinierende Verbindungen mit klassischem und zeitgenössischem Repertoire aufbauen, begegnen uns Künstler am Klavier, Schlagzeug und Kontrabass. Protagonisten am Klavier waren oft wichtige Gestalter und Wegbereiter, wie Duke Ellington, Count Basie, später der seinerzeit sehr originelle Thelonious Monk, dann Chick Corea, Herbie Hancock und so viele andere. Als stilbildend haben sich oft außerdem die Trompeter hervorgetan, in den frühesten Anfängen der Kornettist Buddy Bolden, bald darauf der bis heute verehrte Louis Armstrong, in den 1950ern und darauffolgenden Jahren außergewöhnliche Künstler wie Dizzy Gillespie und Miles Davis, bis hin zu heutigen Jazzikonen wie Wynton Marsalis. Ihnen zur Seite standen die gleichermaßen einflussreichen Saxofonisten, wie Coleman Hawkins, Lester Young, die zeitlosen Ikonen Charlie Parker und John Coltrane, später auch Ornette Coleman, und viele andere.

Das Akkordeon wird zum Swing-Instrument

Akkordeon und Jazz? Dass sich in dieser Kombination im engeren Sinne Stilbildendes getan hat, dauerte bis etwa zu den 1960er, 1970er Jahren. Begegnet sind sich Jazz und Akkordeon aber bereits zur Zeit der Swingmusik. Zwei Strömungen trafen da aufeinander. In den 1920ern und 1930ern war der damals noch junge Swing in den Vereinigten Staaten enorm beliebt, in den Clubs und Tanzsälen von New Orleans bis Chicago und von dort bis New York wurde gespielt, gesungen, getanzt und gefeiert, und nicht nur dort. Gleichzeitig hatten Akkordeons eine veritable Hochphase. Abertausende wurden allein im "Musikwinkel" im sächsischen Vogtland, im baden-württembergischen Trossingen, in weiteren Städten und in Nachbarländern wie Italien und Frankreich angefertigt. Mit den Auswandererwellen aus Europa reisten sie in großer Zahl in die USA. Da auf dem Akkordeon alles gespielt werden kann, wenn es jemand spielt, wurde bald der Swing für dieses Musikinstrument entdeckt. Musikstücke, die wir heute als Swing- und Jazzstandards kennen, und die immer noch weltweit auf Jam Sessions interpretiert werden, wurden von Akkordeon-Pionieren erstmals mit Tasten, Knöpfen und Blasebalg angestimmt. Einige Musiker taten das mit so viel künstlerischem Feinsinn und Wohlklang, dass ihre Versionen bis heute berühmt sind. Die Akkordeonisten Art van Damme und Frank Marocco sind hier sicher mit als erste zu nennen.

Art van Damme kam im April 1920 in der winzigen Stadt Norway im US-Bundesstaat Michigan zur Welt. Als Neunjähriger begann er, klassisches Akkordeon zu lernen. Er spielte bald erste öffentliche Auftritte in seinem Heimatort und der Umgebung. Als er 14 war, zog seine Familie nach Chicago. Es waren Einspielungen des Klarinettisten und Bandleaders Benny Goodman mit seiner sehr erfolgreichen Bigband, die ihn auf den Swing brachten. Er war gerade volljährig, und formierte bald ein erstes Trio mit Akkordeon, Bass und Gitarre. Gegen Ende der 1930er Jahre war diese Combo überall in Chicago zu hören, für mehrere Jahre. Als 21-jähriger schloss er sich seinerseits einer Bigband an, der des Violinisten Ben Bernie. Das gab ihm noch einmal ordentlich künstlerischen Schub. Nach einer etwas zweimonatigen Tournee wieder zu Hause in Chicago begann van Damme, erstmals als Akkordeon-Solist Konzerte zu spielen. Der Rest ist Jazz-Geschichte. Der swingende Akkordeonist gründete weitere Ensembles, darunter sein bekanntes Quintett. Er arbeitete über viele Jahre für Radio und Fernsehen, insbesondere für das Sendernetzwerk NBC. Sein Konzertleben brachte ihn mit unzähligen Ikonen des Jazz zusammen, etwa Dizzy Gillespie, Ella Fitzgerald und Buddy DeFranco.

Vor allem in den USA, aber zugleich weit darüber hinaus, wird van Damme bis heute als Pionier des Jazz-Akkordeons gefeiert. In manchem Bericht über seine Musik heißt es, er hat nicht zuletzt Goodmans Stil des Klarinettenspiels für sich als Modell für sein eigenes Swing-Akkordeonspiel verwendet. Wer seine zahllosen Aufzeichnungen hört, kann das nachvollziehen. Leicht, luftig und oftmals heiter, im rhythmischen Feeling im wahrsten Sinne des Wortes "bes(ch)wingt" sind die Songs anzuhören. Seine Improvisationen über die gespielten Jazz-Standards hat er nicht selten rasant-virtuos vorgetragen. Van Damme spielte bei verschiedenen Musikfirmen Alben ein, darunter Capital Records, Columbia Records, ab den 1960er Jahren auch beim deutschen Label MPS Records. "Die" amerikanische Jazzzeitschrift Downbeat wählte ihn über zehn Jahre jedes Jahr zum besten Jazzmusiker am Akkordeon. Er spielte Zeit seines Lebens Klavierakkordeon, sein Modell war ein amerikanisches Fabrikat von Excelsior. Bis kurz vor seinem Tod im Februar 2010 gab er Konzerte. Als Komponist eigener Musik tat sich van Damme nie hervor. Einer seiner großen Erfolge ist, dass er als virtuoser Akkordeonist seine hörenswerten Versionen zahlreicher Jazzstandards sowohl live als auch auf seinen Alben um die ganze Welt schickte. Diesen Erfolg teilt er insbesondere mit dem etwas jüngeren Frank Marocco.

Jazz - komponiert für Akkordeon

Im Januar 1931 in Joliet, Illinois, in der Nähe von Chicago geboren, wuchs Marocco in einer städtischen Umgebung auf. Als er sieben Jahre alt war, begann er, Akkordeon zu lernen. Zwar übte er sich viele Jahre vor allem in klassischem Repertoire. Sein Musiklehrer war aber ermutigend und aufgeschlossen, so dass der junge Frank sich zugleich an anderer Musik versuchte. Er übte außerdem Klavier, Klarinette und Dirigieren, setzte sich mit Musiktheorie auseinander und spielte in der Band seiner High School. Der damals sehr anerkannte Akkordeonist Andy Rizzo wurde sein nächster Lehrer. Als 17-jähriger gewann Marocco einen Musikwettbewerb. Sein ausgezeichnetes Solo durfte er mit dem Chicago Pops Orchestra in einem großen Konzert vortragen. Bald gründete er ein erstes eigenes Trio, mit dem er im Mittleren Westen der USA auf Tour ging. Ähnlich van Damme hat Marocco oft Jazzstandards interpretiert und dazu gekonnt improvisiert. Doch er verfasste zusätzlich eine Menge eigene Musikstücke für Akkordeon, wie "Autumn in Paris", "Night in Morocco" oder "F Minor Blues". Damit tat er einen weiteren, wichtigen Schritt für das Jazz-Akkordeons: Jetzt waren Jazzakkordeonisten zugleich Komponisten.

Maroccos Umzug als junger Mann nach Los Angeles hatte auf seine weitere Laufbahn einen ganz wesentlichen Einfluss. Denn dort, umgeben von all den Filmemachern und Studios, dauerte es nicht lange, bis sein Akkordeonspiel auf Soundtracks landete. Über die Jahrzehnte wurde er zu einem der wohl meist aufgezeichneten Akkordeonisten. Namhafte Filmkomponisten wie John Williams, Hans Zimmer und Quincy Jones bezogen ihn und sein Victoria-Klavierakkordeon aus Italien in ihre Arbeiten ein. Zugleich ging er auf Tour, spielte Konzerte mit renommierten Jazzern, etwa Ray Brown, Zoot Sims und Herb Ellis. Er blieb ein produktiver Musiker der Szene, bis er im März 2012 im Alter von 81 Jahren verstarb. Die American Accordionists Association hatte ihn 2006 mit einem Lifetime Achievement Award geehrt. Seit 2000 ist er in der Accordion Hall of Fame im italienischen Vicenza vertreten.

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