„Akkordlehre – Ganz Konkret“ von Peter M. Haas

Musiktheorie und Spaß – passt das zusammen? 

Text: Jens Großmann

 

Es gibt etwas Neues aus dem Hause Haas. ‚AKKORDLEHRE – GANZ KONKRET‘  ist der Titel des dreibändigen Werks von Peter M. Haas, unterteilt in die Bände 1. Grundlagenwissen, 2. Akkordwissen und 3. Jazzharmonik. Aber was genau verbirgt sich dahinter? Was heißt denn „ganz konkret“? Für wen sind diese Bücher geeignet und braucht man wirklich noch mehr Bücher über Musiktheorie, oder reicht es, die alten mal abzustauben? Fragen über Fragen, die ich versuchen möchte, zu klären.

 

Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass Form und Aufbau eher einer Instrumentalschule als einem Theoriebuch gleichen. Im DinA4 Format gehalten, enthält jeder Band zehn Kapitel, die logisch aufeinander aufbauen. In übersichtlichen, großen Grafiken und klaren, kurzen Texten wird erklärt, worum es geht und schon folgen Übungsaufgaben und Höraufträge. Ja, Höraufträge, denn zu den Büchern gehört eine Webseite, auf der sich Hörbeispiele und -übungen und sogar ein Hörtrainer befinden. Hat man ein Kapitel durchgearbeitet, kommt am Ende eine Abschlussfrage, über deren richtige Antwort man ein Passwort erhält. Dies ist der Schlüssel zur Lösungsdatei des jeweiligen Kapitels. Das macht zum einen richtig Spaß und stellt zum anderen sicher, dass man erst zum nächsten Kapitel weitergeht, wenn man es wirklich verstanden hat.

Band 1 befasst sich mit den Grundlagen der Musik und legt eine solide Basis für die weiteren Bände. Hier wird das Hören auf vielfältige Weise trainiert und geschärft, z.B. in Verbindung  mit der Hörtrainer-Software auf der zum Buch gehörenden Webseite oder durch viele Klangbeispiele aus verschiedensten Epochen, Stilrichtungen und Kulturkreisen. Die Entstehung unseres Notensystems wird historisch beleuchtet und physikalische Zusammenhänge zur Entstehung unseres Tonsystems werden anschaulich erläutert. Dies aber nie zum Selbstzweck, sondern immer im Hinblick auf ein tieferes Verständnis klanglicher Zusammenhänge und letztlich zur praktischen Anwendung. Musikalisches Handwerk, zum Beispiel ein Stück herauszuhören oder es zu transponieren, wird ebenso vermittelt und geübt wie das Wissen über die Spannungsverhältnisse und musikalischen Wirkungen verschiedener Tonleitern. Nicht wie viele Molltonleitern es gibt, sondern welche unterschiedlichen Klangfarben sie erzeugen ist hier die eigentliche Frage. Wir lernen Skalen unterschiedlicher Stile kennen, wie Balkan-Dur und -Moll, die Blues- und die Boogie-Tonleiter, die Ganz- und Ganz-/Halbtonleiter, die Kirchentonarten, Pentatonik  und viele mehr. Und auch hier wieder: Das Wissen ist nicht Selbstzweck, sondern dient der Erweiterung des musikalischen Ausdrucks des Lesers oder besser des Bearbeiters des Buchs. Denn ‚AKKORDLEHRE – GANZ KONKRET‘ ist kein Lesebuch, sondern ein Workbook!

 

Ein Thema, das wir Akkordeonisten zwar mit links machen, das vielen aber aus der Schulzeit noch mit dem sinnlosen Auswendiglernen zweifelhafter Sprüche wie „geh du alter Esel hol‘ Fisch“ bekannt sein dürfte, ist der Quintenzirkel. Hier wird er nicht einfach dargestellt, sondern schrittweise erarbeitet, so dass er im Wortsinn ‚begreifbar‘ wird. Für die Praxis bekommt man gleich noch die Systematik der Fingersätze der 12 Tonarten für die Pianotastatur mit auf den Weg, und nebenbei wird auch noch ‚das Wunder‘ der temperierten Stimmung erklärt. Faszinierend, wie leichtfüßig hier theoretisches, geschichtliches und physikalisches Musikwissen zusammengeführt und in die Praxis überführt wird.

 

 Das macht Lust auf mehr, schauen wir uns Band 2 an! Hier geht es nun wirklich um Akkorde. Wie werden sie gebildet, welche Akkordtypen gibt es und vor allem: Was kann ich damit anfangen? Schon im ersten Kapitel gibt es Spielübungen, die in das Begleiten nach Akkordsymbolen einführen und uns somit die große Welt der Leadsheets eröffnen. Weiter geht es mit den Umkehrungen, auch hier wieder mit praktischen Übungen dazu, wie man sinnvolle Begleitungen und bequeme Griffverbindungen zwischen den Akkorden finden kann oder wie man eine Melodie mit der gleichen Hand teilweise mit Akkorden unterlegt (Voicing-Technik). Akkordverwandtschaften werden anschaulich erklärt, Begriffe wie Funktionstheorie und Stufentheorie verlieren ihren Schrecken und werden zu Freunden, die uns beim kreativen Schaffen von Musik helfen können. Passende Harmonien zu einer Melodie zu finden wird ebenso erarbeitet wie die Reharmonisation eines Stückes. Wie weit so etwas gehen kann und welche tollen Klangerlebnisse möglich sind, etwa wie in Dvoraks zweitem Satz aus „Aus der neuen Welt“, zeigt uns Haas im letzten Kapitel „Entfernte Verwandte“. Gemeint sind hier nicht ganz alltägliche Akkordverbindungen, die etwa durch Medianten, also Terzverwandtschaften, gebildet werden. Eine tolle Spielwiese für alle, die sich nach reizvollen Harmonieverbindungen sehnen.

 

Wer jetzt denkt, das ist mir zu hoch, dem sei versichert, man wird lückenlos und im wahrsten Sinne spielerisch dort hingeführt. Bevor man hier landet, hat man eine Menge Handwerkszeug erlangt, wie z.B. Kadenzen in allen Tonarten zu spielen, „sus“ und „dim“ Akkorde zu erkennen und zu verwenden, Akkordstufen zu bestimmen und zu transponieren und vieles mehr. Wie schon in Band 1 begegnen uns dabei Hör- und Analysebeispiele u.a. aus Klassik, Blues, Pop, Klezmer, Balkan und Jazz, die uns die harmonischen Phänomene erfahrbar machen lassen. Wer nach neuen kreativen Impulsen sucht, wird besonders im vorletzten Kapitel belohnt mit dem „Progressions-Puzzle“. Auf spielerische Weise können hier neue mögliche Akkordprogressionen (Fortschreitungen) gefunden werden, ein spannendes Spiel mit Akkorden, das den Blick für neue harmonische Wege öffnet.

 

Nachdem in Band 2 ein solides Fundament im Umgang mit vorwiegend dreistimmigen Akkorden gelegt wurde, eröffnet uns Band 3 „Jazzharmonik“ die Welt der Vierklänge und Akkorde mit Optionstönen (None, Elf, Dreizehn). Es werden neue Klangbilder akustisch eingeführt, theoretisch beleuchtet und in praktische Spielaufgaben überführt. Bereits am Ende von Kapitel eins begleitet man mit jazztypischen Akkorden nach einem Lead-Sheet ein Play-Along und spielt das Blues-Schema. In den folgenden Kapiteln wird der Akkordvorrat schrittweise erweitert, man lernt die Jazzkadenz (II-V-I) in Dur und Moll kennen und in allen Tonarten zu spielen, die Vollkadenz wird eingeführt und in verschiedenen Grifflagen und Tonarten geübt. Fragen wie „Welche Töne darf ich zur Improvisation verwenden“ werden geklärt und viele Tipps und Übungen zum Thema Improvisation folgen. Jazztypische Begriffe und Phänomene wie „Upper Structure“, alterierte Skala und Tritonus-Substitut werden sehr anschaulich erläutert und für das eigene Spiel nutzbar gemacht. Im letzten Kapitel geht es schließlich um Sinn und Zweck der Akkord-Skalen-Theorie und um die Anwendungsmöglichkeiten verschiedener Skalen wie phrygisch, lokrisch, Mixo-#11, Halbton-Ganzton und alteriert. Während des gesamten dritten Bands begegnen uns dabei immer wieder bekannte Jazzstandards als Hörbeispiele zu den verschiedenen Themen, sodass die Reise durch die Welt des Jazz wirklich ein Erlebnis und kein verkopftes Zahlenspiel wird.

Nachdem wir die drei Bände nun inhaltlich kennengelernt haben, komme ich zurück zu unseren Ausgangsfragen.  Was verbirgt sich dahinter, was meint „ganz konkret“ und für wen sind diese Bücher geeignet?

 

Peter Haas‘ „Akkordlehre – GANZ KONKRET“ könnte man als einen Praxislehrgang zur Musiktheorie beschreiben. Er vermittelt Inhalte aus der klassischen und der Jazz-Harmonielehre und füllt diese mit Leben, indem das neu erlernte Wissen direkt in praktische Übungen überführt wird, es wird also sofort „ganz konkret“! Für alle drei Bände gilt das Grundprinzip Hören, Verstehen, Spielen. Theorie wird also nicht als Selbstzweck vermittelt, sondern ist das Bindeglied zwischen Hören und Spielen. Peter Haas vereint auf faszinierende Weise Wissen aus verschiedenen Teildisziplinen der Musik zu einem geschlossenen Ganzen. Er hat damit sicher ein ideales Einstiegswerk für alle geschaffen, deren Interesse an Musik über das reine Abspielen von gedruckten Noten hinausgeht. Dabei ist es unerheblich, ob man gerade damit anfangen will oder schon einen längeren Weg hinter sich hat. Die drei Bände sind so konzipiert, dass der Anfänger bequem einsteigen kann, aber auch der Fortgeschrittene von Anfang an auf Zusammenhänge und Sichtweisen stößt, die vorher so vielleicht noch nicht klar waren. Das können manchmal ganz kleine Dinge sein, die uns aber zeigen, dass die Welt der Musik eine Einzige ist. Nur ein kleines Beispiel: Der Klassiker sagt „Plagalschluss“, der Jazzer „Amen-Chords“. Gemeint ist das Gleiche: die Schlusswendung Subdominate-Tonika. An vielen Stellen bekommen wir solche kleinen Brücken zwischen Stilen und Epochen gezeigt, da macht Musiklehre richtig Spaß.

 

Apropos, überhaupt macht das Bearbeiten der drei Bände sehr viel Freude, nicht zuletzt durch die Passwortaufgaben, die uns den Zugang zu den Lösungen auf der Webseite geben oder durch die kleinen Videos zu den einzelnen Kapiteln, die es auf youtube zu sehen gibt. Was aber „AKKORDLEHRE – GANZ KONKRET“ wirklich zu einem außergewöhnlichen Werk macht, ist Peter Haas‘ Fähigkeit, komplexe Sachverhalte verständlich darzustellen, ohne dabei auf Präzision zu verzichten. Ich denke, diese drei Bände haben das Zeug, zum Standardwerk für Musiker zu werden, denn ein so umfassend konzipiertes Werk, welches stil- und epochenübergreifend die Musiktheorie von allen Seiten beleuchtet und praktisch vermittelt, ist zumindest mir bisher noch nicht begegnet.

Einen kleinen Wunsch von mir für die Zukunft gäbe es dann doch noch: Das Anhängen eines übergreifenden Schlagwortregisters für die drei Bände. Denn viele Fachbegriffe sind hier so toll erklärt, dass man später sicher öfter mal nachschlagen möchte, wie und in welchem Kontext sie in „AKKORDLEHRE – GANZ KONKRET“ behandelt werden. Damit erschöpft sich aber auch schon meine Kritik, und ich möchte enden mit einem Zitat von Peter M. Haas aus dem Vorwort des dritten Bandes, welches wohl sehr gut seine Motivation zur Herausgabe dieses wirklich gelungenen Werks beschreibt: „Oft wird Musiklehre schlecht, lieblos und trocken erklärt. Dabei ist es so spannend, zu entdecken, wie unsere Musik funktioniert.“                             

www.petermhaas.de/