"Den Klang neu suchen" - Viviane Chassot
Ganz früh hat Viviane Chassot die klassische Musik für sich entdeckt, und früh genug das Akkordeon. Dass die Schweizerin beides heute in ihrem Spiel so ausgefeilt, zart und nuanciert verknüpft ist eine Zier für die großen Konzertsäle. Mit Orchestern kann sich die Solistin ebenso hören lassen wie in Duos oder bei Solo-Recitals. Was anderen gar nicht in Sinn käme, funktioniert bei ihr: Scarlatti, Beethoven, Mozart, Haydn oder Bach, sie lässt diese Musik am Akkordeon glänzen. Am anderen Ende des Spektrums gibt es Zeitgenössisches zu hören, etwa von Helena Winkelmann und Stefan Wirth. Bei aller Liebe zu den alten Meistern will sie immer zugleich Neues fürs Konzertrepertoire - und mischt am liebsten bereits beim Komponieren mit.
Text: Christina M. Bauer; Fotos: Marco Borggreve, Hanspeter Giuliani, Heike Liss, Archiv Viviane Chassot
Weiche Gesichtszüge, ein charmantes Lächeln und in einem ruhigen, reflektierten Gespräch manchmal ein heiteres Lachen. Von ihrem Zuhause nahe des Rheins im kulturbeflissenen Basel aus gibt Schweizerin Viviane Chassot im Videointerview Einblicke in ihr bewegtes Leben mit der Musik. Am Akkordeon ist sie bekannt für ihren eleganten, feinsinnigen Ton mit Sinn für zarte Nuancen. Sie darf sich jedenfalls zu den bekanntesten Protagonistinnen der klassischen Akkordeonmusik in den großen Konzertsälen der Welt zählen. Einfach war das nicht immer, aber über die Jahre hat die Künstlerin bereits eine Menge erreicht. Sie trat in renommierten Sälen auf, arbeitete mit Dirigenten wie Sir Simon Rattle und Riccardo Chailly, spielte Alben bei Genuin und Sony Classical ein und durfte sich über Kulturpreise wie den Swiss Ambassadors Award oder den Kranichsteiner Musikpreis freuen. Musik aus Barock, Romantik und Klassik hat Viviane Chassot von klein auf fasziniert. Da waren die Werk von Haydn, Tschaikowsky, Beethoven und Mozart, die vor allem ihr Vater zu Hause hörte. Als begeisterte Ballettschülerin war es oft entsprechendes Repertoire, zu dem sie ihre Choreografien tanzte. Mit elf war Viviane im Opernhausballet in Zürich.
Aus heutiger Sicht lässt sich also sagen, die Musik war zuerst da. Irgendwann kam das Akkordeon dazu. Was früh da war, war jedenfalls die diatonische Harmonika, die der Vater zu Weihnachten spielte. In der Schulklasse in der kleinen Gemeinde Wollerau im Kanton Schwyz am Zürichsee spielten außerdem fast die Hälfte der Schüler Harmonika oder Akkordeon. Die Region war voll an Ländlerstuben und Akkordeonorchestern. Das Repertoire bestand meist aus traditionellen Liedern und regionaler Volksmusik. Den Sound von Handzuginstrumenten mochte Viviane als Mädchen schon, nur die Begeisterung für das Gespielte hielt sich in Grenzen. Irgendwann musste sie das zusammenbringen, das Musikinstrument und das passende Repertoire. "Dann habe ich eines Tages Bach im Radio gehört, am Akkordeon gespielt", erinnert sich die Künstlerin. Da war also die Verknüpfung. Als Zwölfjährige begann sie, das Musikinstrument zu lernen, und kaum, dass sie Knöpfe und Balg koordinieren konnte, zählten Stücke von Bach zu ihren Übungen.
"Dann habe ich eines Tages Bach im Radio gehört, am Akkordeon gespielt."
Akkordeonistin, was sonst?
Für den Akkordeonunterricht gab sie sogar das Ballett auf, obwohl es ihr zuerst gar nicht leicht fiel. Zum Üben überwinden musste sie sich nie. "Es hat mir wahnsinnig Freude gemacht", so die Musikerin. Ihre beiden jüngeren Schwestern probierten sich an Blockflöte und Violine, aber die Begeisterung packte sie nicht so. Irgendwann waren es andere Dinge, die sie mehr beschäftigten. Inzwischen ist eine ihrer Schwestern Lehrerin, die andere in der Wirtschaft tätig. Viviane hat die Familiengeschichte um einen völlig neuen Aspekt ergänzt. Während es in nicht wenigen Familien über Generationen eine Musiktradition gibt, war sie die erste, die es dorthin zog. "Niemand, auch im weiten Bekanntenkreis, macht Musik, überhaupt nicht", stellt sie fest.
Für Viviane war es trotzdem sehr früh beschlossene Sache, dass sie Musikerin werden wollte. Das hatte solchen Vorrang, dass ihr manche anderen Inhalte relativ überflüssig erschienen. "Ich war am Gymnasium, musste diese Schule machen, und ich hab überhaupt keine Lust gehabt", erinnert sich die Künstlerin. Eine gute Schülerin war sie trotzdem. Ihre Akkordeonstudien absolvierte sie nachher in Bern an der Hochschule der Künste und lernte dort bei Teodoro Anzellotti. Sie setzte sich früh mit dem Repertoire vergangener Jahrhunderte und mit zeitgenössischen Stücken auseinander. Klassisches Repertoire lässt sich ausgezeichnet am Akkordeon interpretieren, obwohl es geschrieben worden ist für andere Musikinstrumente.
Oft entstanden solche Werke zunächst für Cembalo, andere Vorgänger des modernen Klaviers oder für Streicher. Insofern liegt die Idee nahe, sich mit Künstlern auszutauschen, die an der Interpretationskultur näher dran sind. Das tat Chassot ganz bewusst und zog einige Jahre nach dem Studium in Bern eigens nach Leipzig. "Ich ging an die Hanns Eisler Musikhochschule, um mit Eberhard Feltz zu arbeiten, einem der bekanntesten Streichquartettprofessoren", so die Akkordeonistin. Zusätzlich besuchte sie Meisterkurse bei etablierten Könnern des klassischen Klaviers wie Ferenc Rados, Andras Schiff und Alfred Brendel. Auf die Inspiration und den künstlerischen Feinschliff hält sie bis heute große Stücke. Schließlich kehrte sie in die Schweiz zurück, wo sie inzwischen in Basel lebt.
Werke für heute
Zeitgenössische Komposition wiederum ist für sie eine kreative Quelle, an der sie im Austausch mit Komponistinnen und Komponisten selbst immer gern mitwirkt. "Das ist was so Tolles, als Kommunikation und Resonanz", resümiert sie. "Es ist nicht so, dass ich das in Auftrag geben würde, dann kommen irgendwann Noten und ich studier das ein." Ein Beispiel aus ihrer Zusammenarbeit mit Landsfrau Helena Winkelmann wäre Anfang Juni uraufgeführt worden, wäre nicht der virusbedingte Lockdown dazwischen gekommen. Chassots Idee dafür war, traditionelle Schweizer Volkslieder in einem zeitgenössischen Orchesterwerk zu verarbeiten. Winkelmanns Komposition entstand für Chassot als Solistin mit dem Sinfonieorchester Musikkollegium Winterthur. Nun müssen sich Komponistin, Musiker und Publikum bis zur Premiere noch ein wenig gedulden. Wann sie stattfinden kann, weiß derzeit niemand. Die Akkordeonistin hofft auf 2021.
"Das ist was so Tolles, als Kommunikation und Resonanz. Es ist nicht so, dass ich das in Auftrag geben würde, dann kommen irgendwann Noten und ich studier das ein." (Viviane Chassot über ihre Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten)
Mit der Komponistin und Violinistin Winkelmann hat sie über die Jahre öfter zusammengearbeitet, für Kompositionen und gemeinsam auf der Bühne. Andere Komponisten unserer Tage, mit denen sie bisher gearbeitet hat, sind Stefan Wirth, Heinz Holliger, Rudolf Kelterborn und Bernhard Lang. Ausgewählte Stücke spielte sie auf ihrem Album New Horizons ein, ein stilistisches Kontrastprogramm zu ihren Würdigungen älterer Werke. Es erreichte die Vierteljahres-Bestenliste 3/2014 des Preises der deutschen Schallplattenkritik. Zwar mischt die Akkordeonistin am liebsten selbst mit bei der Entstehung von Musik, als Komponistin sieht sie sich aber nicht. Neugierig wäre sie darauf. Was dem Komponieren bisher am nächsten kommt, sind wohl die Kadenzen, die sie für ihre Interpretationen von Mozart- oder Haydn-Konzerten eigens entwickelt hat. Stilistisch gilt sie zu Recht als vielseitig und aufgeschlossen, denn abgesehen von Neuer Musik streckt sie ihre Fühler ebenfalls in Richtung Jazz und Improvisation aus, probiert, eignet sich an, kombiniert und integriert. So kam es ab und an vor, dass sie bei Jazzfestivals auftrat...