Kimmo Pohjonen - Der Akkordeon-Schamane

Kimmo Pohjonen

Der Akkordeon-Schamane

Im urtümlichen Gewand pumpt und orgelt Kimmo Pohjonen über die Bühnen, mit Krachen und Getöse, oder melodisch flirrend. Sein erklärtes Ziel ist, die elektronischen Möglichkeiten des Akkordeons völlig neu auszuloten, und damit undefinierbare Musik zu spielen. Dabei hilft ihm die Kombination mit Streichern, Vokalisten oder Traktoren, und die Kunst des Akkordeon-Tanzes.

Text: Christina M. Bauer Fotos: Egidio Santos, Mikki Kunttu, Kalle Bjorklid, Nina Sivén, Petra Hajska, Marja Seppala, Studio 1851

Wer Kimmo Pohjonen bisher nie spielen gesehen hat, macht meist erst einmal große Augen und noch größere Ohren. Inzwischen hat er als innovativer Akkordeon-Schamane international einige Bekanntheit erreicht. Die energiegeladene, facettenreiche Musik, die originellen Performances und natürlich der Dokumentarfilm „Soundbreaker“ seines Landsmannes haben dazu ihren Teil beigetragen. Pohjonens Musik landete mehrmals auf den vordersten Plätzen der World Music Charts und erhielt 2015 einen Emma Award, für seine Filmmusik bekam er den Jussi Award, und für seine vielseitigen Werke zuletzt 2016 den finnischen Staatspreis für Multidisziplinäre Kunst. In fast einem Vierteljahrhundert sind eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Ensembles entstanden, und es kommen neue dazu. Wie der Musiker im Mai von Helsinki aus berichtet, ist das für ihn ebenso herausfordernd wie wichtig. Egal was zuletzt alles da war, es soll mit etwas Neuem weitergehen. Es war schon so, als er die an der Sibelius Akademie in den 1980ern studierte klassische Musik hinter sich ließ, und danach, als er nach intensiver Beschäftigung mit traditionellem Folk anfing, seinen eigenen Stil zu entwickeln. Der integriert seinen urtümlich anmutenden Gesang, und am Akkordeon ein enormes Klangspektrum, das aus folkloristischer Melodik, metallisch krachendem Monumental-Rock, atmosphärischen Soundschichten, elektronischer Percussion und freier Improvisation schöpft, gern alles im selben Stück. „Als ich anfing, meine eigene Musik zu spielen, wollte ich meinen Geist und meinen Körper komplett befreien“, so Pohjonen. „Das ist der Weg, auf dem ich immer noch weitergehe.“

Tanz mit dem Akkordeon

Da trifft es sich gut, dass sich seine per se vielfältigen Stücke bei Bedarf um eine tänzerische Komponente ergänzen lassen. In Bewegung ist Pohjonen beim Spielen zwar immer, das ergibt sich ganz von selbst, wie er sagt. In dem kreativen Projekt „Breath“ zusammen mit dem Tänzer Tero Saarinen wird daraus seit 2018 nun aber erstmals im größeren Stil Tanzen. Das mit dem Akkordeon spielen und Singen zu koordinieren erwies sich für den Musiker als nicht immer einfache Aufgabe. Schließlich sollen, wenn er gerade auf dem Boden rollt, gleichzeitig die angezielten Harmonien erklingen. Annäherung, Abstand, Nähe, Ferne, mit solchen Aspekten setzt sich das Männer-Duo in dem Bühnenstück auseinander. Das deutsche Festivalpublikum kann das Ergebnis im Juli sehen, beim Colours International Dance Festival in Stuttgart. Die Nähe zu Tanz, Theater und Sport hat Pohjonen in einigen seiner früheren Projekte bereits öfter gesucht. Mit der Ballettänzerin Minna Tervamäki spielte er das Stück „Bright Shadow“. Einige Jahre vorher hatte er „Accordion Wrestling“ mit einer Wrestling-Gruppe vorgetragen, samt akustischer Ergänzung durch eigens mikrofonierte Sportmatten. Wechselnde Inszenierungen durch Visuals und Lichttechnik sind meist fester Bestandteil von Pohjonens Auftritten. Sein Gewand, das wie eine traditionelle Ureinwohner-Kleidung wirkt, hat eine Designerin für ihn gestaltet.

Solo-Projekte

Derzeit nimmt der Musiker ein Solo-Repertoire in den Blick, nur er, das Akkordeon, Samples und Effekte. Er hat zwar ein solches Programm, das aber inzwischen seit zwei Dekaden besteht. Also Zeit für ein zweites, ganz neues. Pohjonen möchte den von ihm bisher oft eingesetzten Looper weglassen, mit dem er live Sequenzen aufzeichnen und abspielen kann. Der orchestrale Klang, den er bei Solo-Auftritten erreicht, soll statt dessen nur aus der Verknüpfung mit elektronischen Effekten entstehen. Dazu arbeitet er mit der Software Ableton Live, einem MIDI-Controller und einem Set von Effektpedalen. In vielen seiner Projekte nutzt er Samples, unter anderem Sounds von verschiedenen Kirchenorgeln. Und: Ein elektronisch mehr aufgerüstetes Akkordeon als seines dürfte es momentan kaum geben. Es war zuerst ein normales Pigini-Modell, die Firma Limex übernahm die gewünschten elektronischen Erweiterungen. Seitdem ist das Innenleben vielfach verkabelt, was zusätzliche Klangvarianten ermöglicht. Sogar die Mikrofone sind teilweise direkt in das Instrument mit eingebaut, statt dass Pohjonen in solche hineinspielen würde. Die Innen-Elektronik kann er nach Bedarf an- und abschalten, akustisch spielen geht also weiterhin, und Mischformen sind ebenfalls möglich. Es gibt immer die Befürchtung, dass ein so komplexes Instrument kaputt gehen könnte. Damit zumindest ein spielbares Modell da ist, hat Pohjonen inzwischen zwei davon.

Elektronik fürs Akkordeon

Bei seinem neuen Solo-Programm werden Effekte und Gestaltungsmittel erneut eine zentrale Funktion haben. „Ich denke immer darüber nach: ,Wie kann ich Electronics einsetzen?’“, berichtet der Künstler. Das ist bis heute eine nicht unbedingt alltägliche Perspektive, wenn es ums Akkordeon spielen geht. Zu weiten Teilen steht dann doch, unbesehen des Genres, die akustische Komponente im Vordergrund. „Die Menschen denken an das Akkordeon nicht als elektronisches Instrument“, sagt Pohjonen. Geht es nach ihm, wird er mehr als bisher dazu beitragen, dass sich daran etwas ändert. „Es ist es ein super cooles elektronisches Instrument“, ist er überzeugt. Dass bisher nicht sehr viele Musiker Ähnliches probieren wie er, hat seiner Meinung nach vor allem mit dem Aufwand zu tun. Ein Akkordeon kaufen ist einfach. Die zusätzliche Sonderausstattung muss dagegen zum einen organisiert, zum anderen probiert und individuell angepasst werden. Das erfordert Experimentierfreude und Geduld, bis das gewünschte Ergebnis erreicht ist.
Spaß am Ausprobieren hatte Pohjonen schon immer. In jüngeren Jahren hat er eine ganze Menge Instrumente gespielt, bevor er sich irgendwann vor allem aufs Akkordeon konzentrierte. Kantele war dabei, Violine, Harmonika, Bandoneon, und andere. „In einer Band spielte ich dreizehn verschiedene Instrumente, das war in meiner Folk-Zeit“, erinnert er sich. Erst als die intensive Auseinandersetzung mit dem Akkordeon und der Stimme immer mehr Aufmerksamkeit erforderte, gerieten die anderen Musikinstrumente in den Hintergrund. Sie stehen alle bis heute an Pohjonens Arbeitsort in Helsinki, ab und zu spielt er eines, mehr zum Spaß.

Verschiedene Klangwelten

Von den vielen Ensembles, die der Finne gründete, bestehen einige bis heute fort. Noch relativ neu ist dabei das Trio mit Ismo Alanko und Tuomas Norvio. Mit dem widmete er seiner Wahlheimat Helsinki zuletzt das Themen-Album „Northern Lowland“. Die drei nutzten diese Kooperation ebenfalls, um Neues auszuprobieren. Pohjonen ließ dabei, untypisch für ihn, sogar das Akkordeon stehen. Er konzentrierte sich ganz aufs gesangliche Improvisieren. Alanko, der in seiner Heimat als Rocksänger einige Bekanntheit erreicht hat, verzichtete zumindest teilweise auf Lyrics. Er setzte seine Stimme statt dessen seinerseits als Improvisationsinstrument ein. „Wir probierten an meinem Arbeitsort lange vokale Improvisationen aus, erkundeten Sounds und verglichen sie“, berichtet Pohjonen. Nicht zuletzt nahmen die drei Gelegenheit wahr, für ein motivisch passendes Musikvideo nachts auf beleuchteten Mini-Bühnen durchs menschenleere, verschneite Helsinki zu brausen. Nächstes Jahr wollen sie ihr nächstes Album herausbringen. Bei dem soll das Akkordeon mit dabei sein. Der Akkordeonist komponiert für seine Ensembles viel selbst. Etwas komplett auszunotieren widerstrebt allerdings seinem Ansatz. „Ich möchte keine Musik fürs Notenblatt schreiben“, sagt er dazu. So entsteht ein Großteil der Musik im Moment, und dieselben Stücke können immer wieder anders klingen. Das erlebt der Finne immer auch als das Ergebnis einer Interaktion mit der Umgebung, menschlich wie räumlich. „Wenn ich ein Solokonzert in einer Kirche spiele, ist das gleiche Repertoire auf eine Art völlig anders, als wenn ich es vor zweitausend Leuten spiele, die auf einem Rockfestival herumhüpfen“, so sein Fazit. Erst wenige Tage zuvor hat er in Beirut die erste Variante erlebt, und die positive Resonanz der dortigen Zuhörer. Es war seine erste Tournee in den Libanon. Das gibt es trotz seiner internationalen Tourneen in viele Ecken Asiens, Amerikas und Europas, dass neue Länder dazukommen.

An besonderen Konzerten fehlt es in seiner Karriere jedenfalls nicht. Jedes hat für ihn etwas Faszinierendes, und so denkt er einen Moment nach, ob er dennoch so etwas wie ein persönliches Highlight hat. Es ist wohl, wie er dann feststellt, ein Auftritt in dem Projekt, bei dem er Klänge vom Land und von Landmaschinen aufzeichnete, um sie in seine Stücke mit einzubauen. „In Australiens Outback, mitten im Nirgendwo, auf einer Farm mit Traktoren und Maschinen zu spielen, und da sitzt ein Kerl auf seinem Traktor und spielt begeistert Akkordeon, und zweihundert Leute schauen sich das an, bei einem schönen Sonnenuntergang - das ist eine Idee“, so Pohjonen. Dass die kontrastreiche Natur, die weiten Landschaften und intensiven Wetterphänomene seiner Heimat Finnland oft ihrerseits mit zum Klang der Kompositionen beitragen, davon ist Pohjonen überzeugt. „Ich denke mir immer, wenn ich im Süden Spaniens leben würde, würde ich keine solche Musik spielen.“ Er würde, so vermutet er, wahrscheinlich zwar musizieren, klingen würde das aber anders. Die jeweilige Besetzung bringt natürlich ihren Teil ein. Eine elegante Besonderheit ist hier die Kooperation mit dem amerikanischen Kronos Quartett. Für die hat der Künstler für sich, den Percussionisten Samuli Kosminen und die vier Quartett-Streicher aufwendige Stücke komponiert. Auf die Art hat sich etwas von dem klassischen und zeitgenössischen Repertoire wieder eingeschlichen, dass er in der Reinform nach dem Studium abgehakt hatte. Zuletzt traten die Künstler in dieser Formation zwar seltener auf, sie besteht allerdings weiter. „Diese Musik ist sehr anders als das, was ich in anderen Projekten mache“, so der Akkordeonist. „Aber ich spiele wirklich gern mit ihnen.“ In den letzten Jahren hat er zudem ein Trio mit seinen Töchtern Inka und Saana gegründet, die singen, Schlagzeug und Gitarre spielen. Sie veröffentlichten ein gemeinsames Repertoire, gingen auf Tournee. Beide Mädchen studieren inzwischen und sind daher seltener zu Hause. Wenn die drei einen Auftritt haben, ist das also nicht zuletzt eine Gelegenheit, sich zu sehen.

Akkordeon-Sport

Pohjonens Performances sehen bisweilen sportlich aus, und sie haben wohl auch aus seiner eigenen Sicht eine solche Komponente. So erklärt sich, dass er auf die Frage nach Fitnesstraining gern antwortet: „Das Akkordeon ist mein Fitnessstudio.“ Es wiegt immerhin sechzehn Kilo. Das Reisen damit ist der Künstler inzwischen gewohnt, samt Fußpedalen und Elektronik. Es macht sich positiv bemerkbar, dass die erforderlichen Tools wesentlich kleiner und leichter geworden sind. Früher brachte es der Musiker bisweilen fertig, ganze hundertzwanzig Kilo an Pedalen, Pults und Effektgeräten durch die Gegend zu hieven.

Damit alles rechtzeitig da ist, wo es sein soll, hat er sich angewöhnt, möglichst immer einen Tag vor dem Gig anzureisen. Bei Last-Minute-Flügen kam es früher vereinzelt vor, dass die Band wegen fehlenden Gepäcks kurzfristig umdisponieren musste. „Dann sagte ich: ,Es wird interessant, das wird jetzt ein akustisches Konzert.’“, erinnert sich der Finne und lacht. Mit etwas musikalischer Improvisation ließ sich das überbrücken. Musik hören ist Teil seines Alltags, soll dabei allerdings nicht auf seine eigenen Stücke abfärben. In Phasen, in denen er selbst viel komponiert, hört er sich daher möglichst nur ruhige Kompositionen an. Ansonsten hat er keine stilistischen Festlegungen, da ist es beim Hören wie beim Spielen. „Am liebsten höre ich Musik an der Grenze oder in der Mitte der Genres“, so Pohjonen. Er mag besonders gern das, was nicht eindeutig zuzuordnen ist. Bei seinen eigenen Kompositionen ist das inzwischen weithin bekannt. Das ist nicht nur das spontane Ergebnis seines kreativen Ansatzes, es ist vielmehr sein erklärtes Ziel. „Ich hoffe, man kann das nicht definieren“, sagt er. „Das ist es, was ich jedes Mal anstrebe.“