Eintauchen in die Welt der Musik
Ein Gespräch mit Alan Bern über moderne Klezmer-Musik und darüber, wie man sie vermittelt
TEXT UND INTERVIEW: EVA GEIGER-HASLBECK FOTOS: UNIVERSAL EDITION, CAT CLAES
Alan Bern ist vielbeschäftigt: Im Herbst und Winter eilt er von Workshop zu Workshop, die Vorbereitungen zum nächsten Yiddish Summer laufen allmählich an, er geht auf Vortragsreisen und er macht, nicht zu vergessen, selbst Musik. Wie schön, dass er zwischendurch noch die Zeit für ein kurzes Gespräch mit dem akkordeon magazin gefunden hat!
— Lieber Alan, das Akkordeon ist ja ein ganz spezielles Instrument. Woher kommt deine Leidenschaft dafür?
Ich habe mich damals dazu entschlossen, Akkordeon zu lernen, weil ich meine Art, Musik zu hören, zu machen und zu verstehen grundlegend verändern wollte. Zwischen meinem fünften und 15. Lebensjahr habe ich eine klassische Klavierausbildung absolviert, angeleitet von geschriebenen Noten. Von 15 bis 23 habe ich viele andere Arten von Musik entdeckt, aber meine musikalischen Denkmuster waren immer noch die eines klassischen Pianisten. Mit 23 Jahren bin ich in den Free Jazz und die zeitgenössische klassische Musik eingetaucht – und habe gleichzeitig verschiedenste Erkenntnisse gewonnen. Zuerst die, dass ich mein „inneres Ohr“ weiterentwickeln musste, damit das, was ich spiele, von mir kommt – nicht von den Noten. Dann wollte ich ein Instrument spielen, das mich die Noten so formen lässt, wie ich es will. Anders als das Klavier, bei dem jeder Ton schon in dem Moment, in dem er gespielt wird, wieder verklingt. Und schließlich wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte von der traditionellen europäischen Volksmusik, die europäische Klassikkomponisten von Bach bis Stravinsky über Jahrhunderte hinweg inspiriert hat. Das Akkordeon war die perfekte Antwort! Mit ihm habe ich gelernt, ein „Ohren-Musiker“ zu werden. Als Instrument, das den Luftstrom nutzt, gab es mir die Möglichkeit, Noten genau nach meinen Wünschen zu formen. Und es öffnete mir die Tür zu Dutzenden verschiedenen musikalischen Sprachen aus der ganzen Welt. Heute spiele ich beides, Klavier und Akkordeon, und beides ist essenziell für meine Musik.
— Vom Musiker zum Lehrenden – ist das ein großer Schritt? Wie kam es dazu, dass du heute unterrichtest?
Mein Vater war ein wunderbarer Lehrer, und auch wenn er mich nie in Musik unterrichtet hat, habe ich doch viele andere Dinge von ihm gelernt – auch, was es bedeutet, zu lehren. Durch die Jahre hatte ich einige großartige Lehrer, aber auch viele ganz fürchterliche, inkompetente und ihren Einfluss missbrauchende Lehrer. Um das zu überstehen – und meine Liebe zum Lernen am Leben zu erhalten – musste ich mein eigener, bestmöglicher Lehrer werden. Während dieser Zeit habe ich viel über das Lernen an sich gelernt, und das hat mich dazu gebracht, anderen dabei helfen zu wollen. Ich glaube, dass Künstler einen anderen Grad an Wissen und Größe erreichen können, wenn sie versuchen, ihr Wissen mit ihren Schülern zu teilen. Im besten Fall bringen mich meine Schüler dazu, ständig mein eigenes Denken zu überprüfen, und dabei klarer und tiefgründiger zu werden. Das gilt nicht nur für fortgeschrittene Schüler, sondern auch für absolute Anfänger.
— Was ist dir beim Vermitteln von Wissen zum Akkordeon besonders wichtig? Theoretisch und praktisch?
Ich glaube, dass jede Art von Musik eine unterschiedliche Kombination aus Körper, Gefühl, Intellekt und Fantasie darstellt. Mir ist es sehr wichtig, jede „musikalische Sprache“ so genau wie möglich zu verstehen – wie sie Rhythmus, Melodie, Takt, Harmonie, Form und so weiter verwendet. Um aber in jeder musikalischen Sprache wirklich ein Musiker zu werden, reicht es nicht, darüber Bescheid zu wissen. Du musst in die Welt dieser Musik eintauchen, verstehen, welche Geschichten sie erzählt und wie sie das macht, was wichtig ist und was nicht, und wie es sich in deinem eigenen Körper anfühlt, diese Musik zu machen. Das Akkordeon ist wie ein Spiegel für das, worauf es in einer Musik ankommt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Denkt daran, wie unterschiedlich wir den Balg in arabischer, brasilianischer, bayerischer Musik und so weiter nutzen. Das Akkordeon ist die Schnittstelle zwischen einer musikalischen Sprache und meinem eigenen Körper und Innenleben. Ich schätze das sehr und ermutige meine Studenten, das auch zu erfahren.
— Wie greifst du deine Ansätze aus den Workshops in den Notenheften auf? Gibt es einen „besonderen Dreh“?
Der polnische Philosoph Alfred Korzybski hat einmal gesagt: „Die Landkarte ist nicht das Gebiet.“ Für mich sind die geschriebenen Noten die Landkarte und die wirklich erklingende Musik ist das Gebiet. Ein Musiker muss also das Gebiet erkunden, um den Sinn der Landkarte erkennen zu können. Wenn wir ein Notenblatt von Beethoven oder Thelonius Monk sehen, müssen wir wissen, wie ihre Musik im Allgemeinen klingt, um die Noten gut spielen zu können. Es ist auch wichtig, den kulturellen Kontext jeder Art von Musik zu verstehen. Die Bücher, die ich mit meinen Kollegen für die Universal Edition gemacht habe, sollen ein Zugang zur Welt der klingenden Klezmer-Musik sein. Für die Bücher mit Violine und Klarinette haben wir Videos von uns aufgezeichnet, in denen wir die erste Minute des jeweiligen Stückes spielen, damit man den Klang sehen, hören und fühlen kann. Aber das kann nur der Anfang sein. Ich empfehle, so viele Originalaufnahmen der Klezmer-Musik des frühen 20. Jahrhunderts wie möglich zu hören. Über die Jahre habe ich Tausende Stunden damit verbracht, das zu tun – und das ist keine Übertreibung!
Die Klezmer-Ausgaben der Universal Edition sind anders als alle anderen Publikationen, die ich kenne – es sind nicht einfach Aufzeichnungen von Musik und Akkorden und es sind keine auf Klezmer-Musik „basierenden“ Arrangements. Sie fangen ein, wie meine Kollegen und ich wirklich spielen – unsere Phrasierungen und Ornamente – und sind somit Schnappschüsse einer wirklichen Performance. Wie wir auch in den Büchern schreiben, bedeutet das, dass jeder Notensatz „nur“ eine Interpretation ist, eine Version, kein festgelegter Text wie eine Beethoven-Komposition. Unsere Notenblätter sind Beispiele für Menschen, die sich auf dem Weg befinden, Klezmer-Musiker zu werden, die irgendwann bei jedem Spielen ihre eigene, individuelle Version eines Stückes erschaffen. Das ist übrigens auch der Ansatz, den wir beim Yiddish Summer in Weimar verfolgen, dem Festival für jiddische und Klezmer-Musik, das ich vor 20 Jahren gegründet habe.
— Und was macht für dich den speziellen Charme von Klezmer auf dem Akkordeon aus?
Eigentlich ist das Akkordeon in der Klezmer-Musik ein ziemlicher „Newcomer“. Während des 18. und 19. Jahrhunderts waren die wichtigsten Instrumente die Tsimbl (Zymbal), die Geige und die Flöte. Am Anfang des 20. Jahrhundert übernahm die Klarinette eine sehr wichtige Rolle. Das Akkordeon tauchte ungefähr zur gleichen Zeit auf, wurde in der Klezmer-Musik aber erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts populär. Dessen unbesehen hatte ein typisches Klezmer-Ensemble immer ein Melodie-, ein Akkord- und ein Bassinstrument. Das Akkordeon kombiniert all diese Rollen in einem einzigen Instrument! Wenn man also Klezmer-Musik auf dem Akkordeon spielt, fühlt es sich an, als wäre man ein komplettes Klezmer-Ensemble in nur einer Person. Das macht es perfekt für das Solospielen, gibt aber auch in jeder anderen Besetzung viel Flexibilität. Das Akkordeon kann jede der musikalischen Rollen ersetzen oder übernehmen. Ein „vollwertiger“ Klezmer-Akkordeonist muss also in der Lage sein, alle musikalischen Rollen gleichzeitig zu denken. Das macht die Sache sehr herausfordernd – und sehr inspirierend!
www.yiddishsummer.eu
www.alanbern.net
https://de.wikipedia.org/wiki/Alan_Bern
Notenwerke
Alan Bern hat als Pionier des Klezmer-Revivals einen großen Teil dazu beigetragen, das Akkordeon als zeitgenössisches Klezmer-Instrument zu etablieren. Im Verlag Universal Edition sind drei Notenwerke von ihm erschienen:
+ Klezmer Duets (für Klarinette und Akkordeon)
+ Klezmer Duets (für Geige und Akkordeon)
+ Various: Klezmer Accordion
Berns individuelle Lehre und seine Erfahrungen in der Klezmer- und jiddischen Musik spielen sich in den Heften wider.
Informationen zu allen Titeln – und die Möglichkeit, selbige käuflich zu erwerben – gibt es unter www.universaledition.com