Mit Zuversicht in die Zukunft der Akkordeonpädagogik

Mit Erfindung des Standardbassmanuals 1897 wurde es Laien möglich, Musikstücke ohne musiktheoretische Vorkenntnisse einfacher zu begleiten denn je. Zum Glück haben wir uns weiterentwickelt und sind längst nicht mehr auf einfache Popularmusik aus dem 19. Jahrhundert beschränkt. Das Akkordeon wurde nicht nur salonfähig, sondern ein ernst zu nehmendes Instrument der zeitgenössischen Musik. Seinen Platz in der volkstümlichen und traditionellen Musik hat es dennoch behauptet. Was ist also noch übrig von dem ersten „richtigen“ Laien- und Popularmusikinstrument, dem Akkordeon? Ist es nicht an der Zeit, festzustellen, wo es in der Popmusik unserer heutigen Zeit steht? Woran liegt es, dass sich dilettantische Musikliebhaber (im positiven Sinne) inzwischen eher eine Ukulele, Gitarre oder Cajon zulegen? Gibt es einen Weg zurück „in die Mitte“ - und welche Chancen ergeben sich daraus?

Der heilige Gral der Improvisation

Seit längerem beobachte ich, dass Jazz und improvisierte Musik in unserem pädagogischen System häufig als Königsdisziplin angesehen werden. Selbst Auswendigspielen stellt für viele eine Hürde dar, die scheinbar nur von wahren Könnern und erfahrenen Musikern bewältigt wird. Beides wurzelt für mich in dem selben Missverständnis: Wir müssen aufhören, „Notensklaven“ und Tastendrücker auszubilden!

Dabei möchte ich gar nicht das Spiel nach Noten selbst in die Mangel nehmen, sondern einen kurzsichtigen Umgang damit. Noten enthalten Informationen über die Musik, die wir ihnen entnehmen können. Musik wiederum erweckt Gefühle, mit denen wir uns identifizieren. Eben diese nonverbale Kommunikation - eine emotionale Verbindung über die Musik - bringt eine enorme Bereicherung in das Leben jedes Musikschülers. Mehr denn je sind wir heute auf der Suche nach Identität, Individualität und Selbstverwirklichung, und wer in diesem Zuge fündig wird in der Sprache der Musik, braucht sich nicht vor den verteufelten Ablenkungen wie Fernsehen, Videospielen und Internet fürchten.

Andersherum werden wir selbstverständlich an unsere Grenzen stoßen, Teenager im Konkurrenzkampf mit Unterhaltungselektronik für die Musik zu gewinnen, wenn wir Musik als pures Entertainment betrachten. Schaffen wir ihnen jedoch Zugang zu ihrer eigenen musikalischen Welt und einer eigenen Ausdrucksform, kann das gerade in dieser Phase einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung einer starken Persönlichkeit leisten.

Um auf die Notenthematik zurückzukommen, bedeutet das, systematisch ein Gefühl für Musiktheorie im weitesten Sinne zu entwickeln, um musikalische Vokabeln und Ausdrucksmittel erkennen und anwenden zu können. Auf die fachgerechte Benennung und die klassische Musiktheorie ziele ich dabei weniger ab als auf ein Gespür für Zusammenhänge und Bausteine. So wie ein autodidaktischer Gitarrist nur seine Griffe braucht, um ohne Wissen über Akkordaufbau oder Vorzeichen Stücke in allen Tonarten spielen zu können – nämlich durch paralleles Verschieben der Hand über den Gitarrenhals - können wir auch das Standardbassmanual begreifen und unser Gehör mit in den Lernprozess einbeziehen.

Wer nach einem Wochenendseminar mit einem Motivationstrainer beschließt, mit Sport anzufangen, muss sich für diese Entscheidung wohl kaum jedes Mal an den Wortlaut des gesamten Vortrags erinnern: Das würde sogar viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Auf ähnliche Art und Weise begreife ich das Erlernen von Musik und Notentext.

Akkordverbindungen im Griff

Folgendes Beispiel verdeutlicht, wie uns der Standardbass beim Verinnerlichen von Musiktheorie behilflich sein kann. Wir nehmen eine gängige Akkordverbindung für einen Four-Chord-Song: C -Am(7) - F - G.

ABBILDUNGEN

Die Diskussion, ob der Grundbass mit dem dritten oder vierten Finger gespielt werden sollte, bin ich leid. Manchmal ist es so praktischer, manchmal anders. Viel wichtiger ist die Vorstellung, welcher Knopf gedrückt werden soll. Spielt ein einzelner Finger traditionell nacheinander die Grundbässe, spielen wir A nicht in der Terzbassreihe und anstelle des C-Dur-Akkords zu Am7 tatsächlich einen A-Moll-Akkord, ist das ein großer Sprungaufwand. Nicht nur, dass die Sprünge zu viel Aufmerksamkeit beanspruchen und mit einem gewissen Risiko einhergehen; die Bewegung ist  zu parallel und „mechanisch“, um sie zügig ins Unterbewusstsein zu bekommen. Wenn ich einem Schüler nun die Aufgabe stelle, diese Akkordverbindung auf jene Art und Weise bei A-Dur statt C zu beginnen, kommt sicher sofort die Frage: „Wo springe ich denn dann hoch?“

Ein Fortgeschrittener wird sich über eine Dreisatzrechnung ausknobeln: „Nach Fis-Moll“. Und darauf kommt mit Sicherheit: „Das ist aber ein schwieriges Stück“.

Hier kommt ein Angebot für einen besseren Workflow: Wir legen Finger 3 auf den C Grundbass, 4 und 2 bringen wir diagonal in dieselbe Reihe und drücken im ersten Takt 3-2 zusammen. Für den nächsten Takt rutschen wir mit 4 einen Knopf nach unten und drücken 4-2. Anschließend bewegen wir 3 und 4 auf die Knöpfe zwischen diesem Griff. 2 bleibt wie ein Anker auf C-Dur. Zum Schluss bewegen wir 3 diagonal zwischen 4 und 2 auf den nächsten Knopf und lassen die ganze Hand eine Reihe nach oben gleiten. 3-2 spielen nun Takt vier und können für die Wiederholung mit der ganzen Hand wieder nach unten geschoben werden.

Mit dieser Anleitung wird der Schüler sich Bewegungen und Wege einprägen, hat ein haptisches Erlebnis und kann dieses mit seiner Hörerwartung verknüpfen. Auf diesem Weg erlernte Akkordverbindungen können mühelos in allen Tonarten gespielt werden, denn an den Bewegungen ändert sich nichts, außer der Startpunkt. Andersrum kann nun die Theorie auf die Bewegung zurückgeführt werden: Was ist die Mollparallele zu A-Dur? Fis, der zweite Griff aus der Verbindung. Die eingeklammerten von mir so genannten „Bereitschaftsfinger“ unterstützen uns dabei, schnell Gegenklänge, Parallelen oder Quintwechselbässe zu finden. Für jede Anwendung gibt es einen bestimmten Griff (C - c - G im Wechselbass z.B. als Dreieck), der die Begleitung als Form einprägsam und erlebbar macht.

Gerade im Pop gibt es meist nicht viele unterschiedliche Akkordverbindungen, sodass sich das Akkordeon nach wie vor hervorragend für die Begleitung eignet.

Patterns und Automationen

Eine Begleitung besteht meist nicht ausschließlich aus gehaltenen Akkorden und Bässen. Im ersten Schritt lohnt es sich aber, die Begleitung darauf zu reduzieren. Ausgehaltene Akkorde in der Begleitung nennt man auch Pads, sobald Grundbass und Akkord in einem gewissen wiederkehrenden Rhythmus gespielt werden, nennt man diese Begleitung Pattern. Patterns sind unter anderem sehr charakteristisch für den jeweiligen Musikstil, in dem sie bevorzugt verwendet werden. Eine einfache Bass-Akkord-Begleitung in Viertelnoten klingt zum Beispiel direkt nach Polka. Diese Bass-Akkord-Figur ist gleichzeitig meist der Einstieg in die Begleitung am Akkordeon. Sehr schnell entwickeln wir daraus einen Automatismus, so dass neue Stücke mit dieser verinnerlichten Kippbewegung zwischen zwei Fingern weniger Aufmerksamkeit benötigen. Die Crux daran: Viele Akkordeonisten erweitern ihr Pattern Repertoire nicht und begleiten so ziemlich alles bequem nach Polka-Manier. Eigentlich nur konsequent, unser Instrument in Folge dessen in eine angestaubte Schublade abzuschieben. Eine anderes Begleitpattern ist ein Eingriff in die Komposition und über die Konsequenzen daraus muss man sich im Klaren sein. Freilich, theoretisch kann man nahezu jeden Stil auf dem Akkordeon spielen… Das „wie“ ist dabei der springende Punkt.

Ausgehend von der Selbstverständlichkeit einer Polka-Begleitung kann ein moderneres Pattern ebenso automatisiert werden. Viele Patterns sind sogar sehr eng mit der Polka verwand aber haben einen völlig anderen Drive. Zum Beispiel ein typisches Latin-Pop-Pattern, das zurzeit im Reggaeton sehr beliebt ist.

Während Gitarristen und Drummer permanent ihr Pattern-Repertoire erweitern, achten wir selbst beim Erlernen neuer Stücke viel zu selten darauf, was in der linken Hand eigentlich vor sich geht. Mit Hilfe eines vielseitig aufgefüllten „Patternspeichers“ haben wir Zugriff auf sehr aktuelle Literatur und können die Vorteile, die das Akkordeon für Begleitungen bietet, voll ausschöpfen.

Was Kreativität auszeichnet

Man sagt, Kreativität ist zu 80 % Reproduktion. Im Film „A Star Is Born“ heißt es sogar, die Genialität eines Musikers bestünde in der Auswahl und Anordnung unserer 12 möglichen Töne. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass sowohl Auswahl als auch Anordnung klaren Regeln folgen, kann man sich musikalische Kompetenz, die über das Abspulen von Notentext hinausgeht, häppchenweise aneignen. Das Erlernen eines Musikstückes kann zum Dialog mit dem Komponisten werden und gleichzeitig die eigene Werkzeugkiste erweitern: Harmonieverbindungen, erweiterte Akkorde, technische Problemstellen, Melodieverläufe - jeder Bestandteil eines Musikstückes lässt sich aus dem Kontext eines einzelnen Stückes lösen und macht uns durch diese Erweiterung des Horizonts, der weit über ein einziges Instrument hinausgeht, zu besseren Musikern. Wenn wir die Popularität des Akkordeons wieder auf Vordermann bringen möchten, muss mehr Akkordeon öffentlich und gut gespielt werden. Keine Noten im Gepäck zu haben, darf nicht zum Vorwand werden, sich verstecken zu können. Und keine Noten zu einem Song finden zu können sollte sogar zum Ziel vieler junger Akkordeonisten werden: Dafür benötigen sie Werkzeuge aus Analyse, Gehörbildung und Arrangement. Musik hörend verstehen und mit bereits Gelerntem verknüpfen, hilft, sie selbst nachspielen zu können. Ein Repertoire an Arrangement-Tricks für das Akkordeon (wie zum Beispiel abwechslungsreiche Begleitpatterns) unterstützt dabei, eigene oder aufgenommene musikalische Ideen mit Raffinesse verwirklichen zu können. Die musikantische Seele des Akkordeons, das sich gerne in eine Runde mit weiteren Musikern gesellen möchte, muss wieder aufblühen und eine gewisse Spontanität im Umgang mit Begleitung und Improvisation gefördert werden. Ein Instrument, das einen eingängigeren Einstieg in die farbenreiche Welt von Harmonien und Patterns bietet, kann ich mir nicht vorstellen.

Ein kreatives Ass ist für mich der Zugang zu Literatur auf unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden; angepasst daran, wie die „Werkzeugkiste“ des Schülers bestückt ist. Ein weiteres Ass ist die flexible Ausgestaltung eines Songs, die sich den Vorlieben des Schülers anpassen kann. Ein drittes ist die wundervolle Möglichkeit, einfachen Zugang auf Harmonien und Akkordverbindungen am Akkordeon zu haben, für die wir Automatismen und Gewohnheiten entwickeln können. Und ein viertes ist die Grundlage für weitere Analyse und tieferes Musikverständnis, die sich wie von selbst aus dem Experimentieren mit den Akkordeon-Assen ergibt. Dafür müssen wir Literatur bewusst vielseitig auswählen, auf Besonderheiten und Regelmäßigkeiten hinweisen und über den Notentext hinaus unterrichten, wie es auch bei den Klavierschülern Bachs üblich war, die zugleich in Komposition unterrichtet wurden. Wir haben unsere Asse längst in der Tasche. Nutzen wir die Gelegenheiten besser, sie auszuspielen und an weitere Akkordeonisten zu verteilen!