Die zwei Leben des Bandoneons

Der Clan der ­Harmonikas [4]: Die zwei Leben des Bandoneons

Die zwei Leben des Bandoneons

Das hätte sich der Musikalienhändler Heinrich Band in Krefeld sicher nie träumen lassen: Nach Jahrzehnten als Instrument der Feierabendmusiker in Deutschland wanderte das Musikinstrument, das seinen Namen trägt, nach Übersee aus und wurde zur Königin des argentinischen Tango ...

In dieser Serie geht es um die Verwandtschaft unseres Akkordeons. „Handharmonikas“ nennt die Wissenschaft diese Sippschaft. Wir hatten bereits (akkordeon magazin #74) das diatonische Akkordeon vorgestellt und gemeinsam mit dem Musiker Jan Budweis die Vor- und Nachteile von chromatischem und diatonischem Instrument verglichen. Im vergangenen Heft zeigte uns Güno van Leyen seine englische Concertina. Heute geht es um eine ganz besondere Verwandte: das Bandonion oder Bandoneon.

Text: Peter M. Haas Fotos & ­Illustrationen: ­Peter M. Haas, Rinus Vlamink

Dornröschen in der Dornenhecke

Ein Musikinstrument voller ­Kanten und Widersprüche, ein märchenhaftes Instrument – oder übertreibe ich hier, weil ich in den Klang dieses Instrumentes immer schon verliebt war? Wie ein verzaubertes Dornröschen hinter der Dornenhecke mutet es demjenigen an, der ein bisschen darauf spielen möchte und an dem Wirrwarr der Melodieknöpfe verzweifelt. Wie Aschenputtel lebte es lang in ärmlichen Verhältnissen, bevor es zur Königin der Tangofeste und Konzertsäle wurde. Zu viele Märchen? Aber es lässt sich nicht bestreiten: Durch die Vorbilder aus argentinischem Tango und der Musik Astor Piazzollas hat das Bandoneon das Repertoire und die Stilistik des Akkordeons beeinflusst wie kaum ein anderes Instrument.

Musik von der Wäscheleine

Dabei fing alles ganz bescheiden an: Um 1850 hatte der Musikalienhändler Heinrich Band in Krefeld ein neues Griffsystem für die sächsische Konzertina entwickelt und verkaufte diese Instrumente als Bandonion. Für viele Jahrzehnte war es das Lieblingsinstrument unzähliger Arbeiter in Sachsen genauso wie an Rhein und Ruhr. In Spielvereinigungen spielten sie gemeinsam Bergmannslieder, Volkslieder und aktuelle Tanzmusik. Sie spielten praktisch nie nach Noten, sondern nach einer Tabulatur, die im sogenannten Wäscheleinensystem die Namen der zu drückenden Knöpfe angab.Wer hätte gedacht, dass diesem Musikinstrument seine zweite, seine große Karriere erst bevorstand?

Krumm gewachsene Pfade

Vermutlich ist kein anderes Instrument so eigenartig und krumm gewachsen, was die Anordnung der Töne angeht. Wer das Bandoneon liebt und spielen möchte, muss sich mehr oder weniger damit abfinden. Einzelton-​Knöpfe rechts und links, und eine große Schwierigkeit: Für rechts und links, für Aufzug und Zudruck gilt jeweils ein anderer Griffplan. (Der große Bandoneon-​Musiker Juan José Mosalini sagte einmal: „Wer Bandoneon spielen will, muss sein Gehirn in vier Teile teilen.“) Das Tückische daran: Keiner dieser vier unterschiedlichen Griffpläne gehorcht einer Logik, die sich ein Musiker systematisch einprägen könnte, mit einer winzigen Ausnahme: Eine kleine Gruppe von vier Tönen auf beiden Seiten orientiert sich am System einer diatonischen Harmonika oder Mundharmonika ... Weiterlesen.