Dieser Artikel stammt aus akkordeon_magazin, Heft #33 vom August/September2013
Uwe Steger ‒ Klangwelten eines Universalisten
Musizieren, fühlen, denken: Uwe Steger und seine präzisen Positionen, Perspektiven und Reflexionen rund ums Akkordeon. Aus dem reichhaltigen Erfahrungsschatz eines Kreativ-Kopfes, der mit allen musikalischen Wassern gewaschen ist ...
Text: Dr. Thomas Eickhoff; Fotos: Archiv Uwe Steger
Mal mit Hut, Füße baumelnd auf einem Baum, in ironisch verbrämter Tracht, oder in ganz anderer, bizarrer visueller Inszenierung im Videoclip. Immer aber in musikalisch bester Gesellschaft – vom Liedermacher Klaus Hoffmann über die Pop-Chanteuse Pe Werner bis zur Operndiva Montserrat Caballé. Wenn jemand nicht in Schubladen zu stecken ist, dann Uwe Steger. Sein Erscheinungsbild für Auge und Ohr ist in jeder Hinsicht vielfältig, wohltuend entgrenzend. Das dürfte jedem, der ihn erlebt hat, von Beginn an klar sein. Schon seit der ersten Begegnung mit ihm in Berlin, später dann bei weiteren Treffen und seinen Performances auf Bühnen aller Art wurde deutlich: Hier hat man es mit jemandem zu tun, der dem Akkordeon sowohl mit freiem Feeling als auch freiem Kopf begegnet und dabei sein lockig wallendes Haupthaar zumeist – und wohl bezeichnenderweise (?) ‒ „offen“ trägt; ein grenzenlos kreativer Künstler mit „Köpfchen“, der dem Instrument Klänge aus bekannten und zugleich fremden Welten entlockt, sie intelligent verbindet und dabei geistreich unterhält. Ja, Uwe Steger macht sich und anderen Spaß, zeigt, dass in dem Wort „Unterhaltung“ der Bestandteil „Haltung“ wesentlich ist, durchweg frei von Langeweiler-Plattitüden der oberflächlichen Spaßgesellschaft. Dabei kann Klassik in Reinform oder in eigenwilliger Be- und Verarbeitung ebenso das Ohr entzücken, wie das vermeintlich „Leichte“ in furioser Virtuosität in eine Klangwelt entführt, die begeistert – auch jene Skeptiker, die mit diesem oder jenem Genre bislang noch nicht auf Tuchfühlung gegangen sind. Uwe Steger überzeugt, weil er, der er als sympathischer Künstler selbst überzeugt ist, das Publikum zu überzeugen versteht, es teilhaben lässt an seinen Darbietungen. Bei und mit ihm ist man ganz nah dran.
Wie vielseitig Uwe Steger im musikalischen Fühlen, Denken und Forschen daherkommt und wie präzise und differenziert er seine Einschätzungen, Anschauungen und Perspektiven zu formulieren versteht und sie begreifbar macht, hat er gegenüber dem akkordeon magazin eindrucksvoll bewiesen ...
Lieber Uwe, die immer wieder beliebte Frage nach den ersten Gehversuchen ‒ wie sahen die bei dir in puncto Akkordeon aus?
Wie jedes Kind bekam ich mit vier Jahren einiges Spielzeug, Bauklötzchen, eine elektrische Eisenbahn und auch ein kleines Klavier aus Plastik und ein Akkordeon mit vier Bässen. Besonders lange und vertieft spielte ich aber mit den Musikinstrumenten und vergaß dabei die Welt. Spielen, Üben und Lernen sind untrennbar miteinander verbunden, und so war die Richtung schon grob vorgegeben. Ich spielte gehörte Lieder nach und improvisierte. Mit neun Jahren wollte mich meine Mutter fördern und vertraute mich der Musikschule an. Dort bekam ich zufällig einen gerade aus Kirgisien nach Deutschland gekommenen Lehrer ‒ Eduard Wall. Der Umstieg auf das Knopfakkordeon und Spiel nach Noten ließen nicht lange auf sich warten. Das Akkordeon konnte für mich nicht groß genug und die Stücke nicht schwierig genug sein. Am liebsten hätte ich 280 Bässe und 35 Register gehabt. Sieben-manualige Orgeln fand ich auch toll. Mich begeisterte, dass es scheinbar keine Grenzen gab, weder technisch noch musikalisch.
Eduard Wall vermittelte mir Bilder und Geschichten, die ich umsetzen sollte, unter anderem „Pinocchios Abenteuer“ von Leimert, das war sozusagen meine erste „Filmmusik“. Mir gefiel das Leben meines Lehrers: Einige wenige hochmotivierte Schüler und einige wenige Konzerte im Monat. So entwickelte sich auch schnell mein Berufswunsch. Mein Lehrer schickte mich auf verschiedene Wettbewerbe und die dort gebotene Musik empfand ich als Kind oft als abschreckend. Klassik oder sogar ernste moderne Klassik hatte ich bis dahin nie gehört. Erst als Jugendlicher ‒ mit dem Studium vor Augen ‒ begann ich zielgerichtet zu üben und entwickelte allmählich auch Spaß an ernsterer Musik. Ich verbarrikadierte mich zum Üben in unserer Reihengarage, denn im Neubau konnte ich meine inzwischen liebgewonnenen komplexen und vehementen Klänge niemandem zumuten. Das klingt hart und manchmal warfen auch irgendwelche andere Jugendliche Steine an die Blechtür, aber ich fand es cool, anders zu sein. Schließlich studierte ich beim gleichen Lehrer sechs Jahre in Berlin, besuchte aber zunehmend auch Seminare bei den Koryphäen der Akkordeonwelt.
Wie hast du dich künstlerisch verwirklicht? ‒ Schwierig bei dir ad hoc einen Faden aufzunehmen, bei dieser Vielfalt. Also: Wie kamst du von wo nach wo …?
Während des Studiums inspirierten mich vor allem die klassischen Kollegen beim Internationalen Akkordeonwettbewerb in Klingenthal (Wladimir Mursa, Yuri Shishkin, Peter Soave, Philippe Bourlois) sowie einige Pianisten ‒ allen voran Glenn Gould. Ich lernte Bachs Goldbergvariationen auf dem Klavier, eine Transkription auf dem Akkordeon hat mich nicht befriedigt. Die Plastizität der Polyphonie auf dem Klavier ist meiner Meinung nach auf dem Akkordeon nicht zu erreichen. Dafür gibt es die Möglichkeit des Ziehens des Tons und viele interessante Spieltechniken, die ich z. B. mit Kusjakov, Semjonov, aber auch Scarlatti oder Vivaldi viel besser ausreizen konnte. Ich kopierte Interpretationen, die mir perfekt schienen, und brachte damit meinen Lehrer zur Weißglut, weil er mir schlichtes, natürliches und bescheidenes Musizieren vermitteln wollte. Inzwischen interessierten mich die ernsthaften Stücke eigentlich am meisten, denn diese sind gehaltvoll und durchdacht und für mich nicht durch „Unterhaltungsmusik“ zu ersetzen. Trotzdem versuchte ich, ihr „Groove“ zu verpassen, wo es nur irgendwie möglich war, und so einen eigenen Stil zu entwickeln. Damit stieß ich aber oft auf Widerstand.
Nach dem Studium ließ ich diesem Drang freien Lauf und spielte viele Szene-Konzerte mit meiner Frau Heidi, die ebenfalls Akkordeon studierte. 1997 lernte ich Klaus Hoffmann mit seiner Band kennen. Er plante damals ein Jaques-Brel-Programm mit Orchester im Schillertheater. Bei diesem Projekt lernte ich viel über Zusammenspiel, Chanson und Jazz, Profialltag und Geschäft. Es waren einfach andere Einflüsse da und ich glaubte zu begreifen, dass man als Profi mit der Musik, die ich bis dahin spielte, nicht durchkommen würde ‒ und es gibt bis heute kaum Beweise für das Gegenteil. Es schlugen zwei Herzen in meiner Brust und es schien auf eine Entscheidung hinauszulaufen. Spezialisierung auf Klassik mit Beschränkung auf ein Zielpublikum oder Verdingung bei anderen Musikern? Bei Klaus Hoffmann fiel mir das nicht schwer, denn Brels Musik ist ein Ozean und die Musiker waren erstklassig. Francois Rauber ‒ Brels Arrangeur ‒ schrieb auch für uns die Arrangements. In der Zeit boten sich viele jeweils sehr spezielle Gelegenheiten und ich ergriff eigentlich jede. Ich sah es als Herausforderung, einfach alles zu spielen, was mir auf den Tisch kam. An einem Abend fand ich mich mit einer neapolitanischen Sängerin, am nächsten Abend mit Neuer Musik in der Berliner Philharmonie, dann bei einer Geburtstagsfeier und irgendwann wieder mit Brel in einem Sendesaal oder bei einem schnell zusammengestellten Jazz-Konzert in einem entsprechenden Club. Montserat Caballé und Ina Deter, Maria Bill und Schnaftl Ufftschik. Die Musik ist so vielfältig und es ist wunderbar, sich darin überall wohlzufühlen ‒ und das ist bis heute so geblieben.
Dein Facettenreichtum an musikalischen Aktivitäten lässt unterschiedliche Aspekte des Akkordeons lebendig werden ‒ wo und wie entwickelst du dein Füllhorn an Ideen, was inspiriert dich, was bringt die Projekte in Gang?
Oft reichen absolute Kleinigkeiten. Es ist mitunter ziemlich abenteuerlich, was die Kids im Unterricht für Musikwünsche äußern oder was Nicht-Musiker von dir erwarten. Ich ahne und befürchte es oft, und wenn es dann so weit ist, tönen aus dem nagelneuen Handy eines begeistert tanzenden Schülers Titel wie „Trouble“ von Coldplay, „Gangnam Style“ von Psy, „Easy“ von Cro usw. Diese an sich absurden Anforderungen finde ich spannend, denn dabei geht es eher um Style, Frisuren und Image. Es liegt also an mir, das tonal magere Material spielbar zu machen.
Es gibt ja schon ein lustiges Video über unsere Hündin Luzi. Wir lieben sie sehr und als wir bei ihr Knötchen am Bauch fanden, war das eine schlimme Zeit, weil wir glaubten, sie zu verlieren. In solchen Momenten denkst du darüber nach, was du eigentlich machst und worum es im Leben geht. Ich hatte gerade die Bach-Kantate „Schafe können sicher weiden“ in Arbeit und diese Stimmung trifft das simple Dasein genau auf den Kopf. So gut wie in dieser Zeit habe ich das Stück nie wieder gespielt.
Meine langen Autofahrten bieten mir fast die einzige Zeit, in der ich tatsächlich ausgiebig Musik hören kann. Während der Fahrt sprudelt es Ideen am laufenden Fahrbahnrand und bedauerlicherweise kann ich in dem Moment nicht aktiv werden. Dafür ändert sich zum Leidwesen anderer Verkehrsteilnehmer mit den Wellen der Musik meine Fahrweise.
Die Kinofilme „Catch me if you can“, „Harry Potter“ und auch „Forrest Gump“ waren für mich durch die Musik praktisch im Vorspann schon so umwerfend, dass ich den Film nicht mehr brauchte. Eigene Projekte gab es eigentlich noch nie, ich wurde immer gerufen.
Auf dem Titelcover sieht man dich auf dem Ast eines Baums, hier und dort mal mit Sonnenbrille oder Schlapphut, mal stylisch, mal folkloristisch. Welche Bedeutung hat für dich persönlich das künstlerische Image ‒ natürlich auch des Instruments?
Ich arbeite ja viel im Theater und würde gern auch einmal Filmmusik in Angriff nehmen. Regisseure sind mit ihren Aufgaben und bei der Arbeit übrigens auch oft lehrreich und inspirierend. Vieles kann man sehr direkt auf die Musik übertragen und meine musikalischen Aspekte beeinflussen nicht selten auch das Schauspiel. Dramaturgie ist mir in der Musik und im Programm sowie innerhalb eines Theaterstücks sehr wichtig. Bei dieser Arbeit stelle ich die Musik in den Dienst eines größeren Ganzen und sie funktioniert nach Vorgaben, ist nie Selbstzweck. Durch die Verbindung der Sparten wirken sie jeweils viel stärker, und das finde ich interessanter als ein festes Image. Ein Schauspieler freut sich darüber, wenn er in einem Film einen naiven Trottel, im nächsten Film einen Kommissar und schließlich einen in der Karibik gestrandeten Postboten spielen darf. Ich bemühe mich mit allen Mitteln, der Musik Kraft und Wirkung zu verleihen, und wenn ich sehr unterschiedliche Musik spielen möchte, muss auch das Image wechseln.
Das Gleiche gilt für das Akkordeon. Ich freue mich immer darüber, dass ich ein Instrument spiele, das wie kein zweites universell einsetzbar ist, und ich glaube, jeder Akkordeonist, der jenseits der Volksmusik in Erscheinung tritt, kennt die Bemerkung „Ich bin überrascht, was mit dem Akkordeon alles möglich ist“. Das ist doch schön, oder?
Das Bild auf dem Baum ist mit der Gruppe Schnaftl Ufftschik entstanden. Das Image würde ich als ulkig, verschroben, absichtlich dem Trend entzogen und schmerzfrei definieren. Keine Attribute, die mich privat bezeichnen würden. Der Einzelne ist Teil eines Ganzen und fügt sich dem Band-Image.
Zur Nachbereitung oder als Bestandteil deiner Performance gehören auch immer wieder Videoclips ...
Die Videos sind nur eine Fortsetzung und ein Vehikel für die Musik. YouTube ist einfach die größte und bekannteste Plattform zur Veröffentlichung. Sie macht es dem Musiker sehr leicht, seine Musik an Interessierte zu vermitteln. Manchmal wäre mir lieber, man könnte auf den Film verzichten und nur die Musik hören, denn das regt die Fantasie an und macht weniger Arbeit (lacht). Trotzdem: Die neue Medienwelt ist einfach großartig, Musik wird heute fast immer multimedial konsumiert, es gibt so viele künstlerische Möglichkeiten. Vor dem Internet-Zeitalter hätte ich wirklich viel darum gegeben, möglichst alles von einem Künstler zu bekommen, Storys, Konzerte, Videos, mit anderen darüber zu diskutieren und womöglich irgendeine Art Kontakt zu bekommen. All das geht nun und ist kostenlos.
Einen Wettbewerb oder ein Konzert als Solist vorzubereiten ist eine Sache: die Größe des Saals vor Augen, die Dramaturgie des Konzertprogramms im Blick, das Durchhaltevermögen auf beiden Seiten usw. Eine völlig andere Sache ist die Audio-Video-Produktion. Generell finde ich im Studio Möglichkeiten, die völlig unabhängig von Konzert- und Wettbewerbszwängen sind. Mein Video zu Lemon Tree ist ein schönes Gegenbeispiel. Es wird von nur einem Finger gespielt. Ein Stück, das live nie so funktionieren würde, weil man den Finger nicht so nah und groß sieht. Manchmal ist eine unbegleitete Kinderstimme viel anrührender als ein technisch anspruchsvolles Werk. Für mich ist das Video einfach ein zusätzliches Spielfeld für Kreativität.
Schon seit Langem bist du mit dem Roland V-Accordion erfolgreich. Welche Möglichkeiten siehst du in dem Instrument bzw. welche Ästhetik im Sinne von „mehr als ein umgehängtes Keyboard” verbindest du damit?
Seit meiner freiberuflichen Zeit suchte ich nach Möglichkeiten, den Sound unseres Akkordeon-Duos zu erweitern. In den Neunzigerjahren kaufte ich mir ein Cavagnolo mit MIDI und Funk und lernte alles von der Pike auf. Leider gab es damals oft noch technische Probleme und erst mit dem V-Accordion ist es nun wirklich praxistauglich. Das Hauptargument ist für mich eigentlich die Möglichkeit, fehlende Instrumente nicht perfekt, aber adäquat zu ersetzen. Ohne Beschränkungen und ohne Mikros kann es problemlos verstärkt werden und es wird nie ein Monitor pfeifen. Man hat schnell mal eben eine Mandoline oder einen Subbass zur Hand, womit man selbst einer kompletten Band noch neue Farben hinzufügen kann oder Schub verleiht, und es ist so kompakt, dass man mühelos ein Konzert im Stehen bewältigt. In der Summe seiner Möglichkeiten, das bedingt durch das mehrmanualige Akkordeon-System und den Balg wesentlich mehr zu bieten hat als ein Keyboard, öffnet es auch Akkordeonsolisten Türen zu für unser Instrument eher ungeeigneter Musik.
Es lauern aber auch Gefahren. Der Geschmack darf niemals verloren gehen. Die Fülle an Möglichkeiten verleitet dazu, sich schnell mit einem adäquaten Angebot des Instruments zufrieden zu geben und ohne eingehende Beschäftigung mit dem Sound, der auch spezielle Behandlung verlangt, zur nächsten virtuellen Welt zu switchen. Das eigene Programmieren durchdringt sich mit dem Üben und Arrangieren. Das Üben und der Geschmack determiniert die Programmierung und umgekehrt.
Die digitalen Sounds sind trotz einer gewissen Statik in einem bestimmten musikalischen Zusammenhang einfach funktional. Ein echtes Akkordeon bietet bei Weitem nicht so viele verschiedene Sounds. Dafür hat aber eine gute Stimmzunge einen Farbverlauf, einen lebendigen Charakter. Deshalb kommt es auf den musikalischen Zusammenhang und die Umstände an: Ein irisches Tremolo vom V-Accordion funktioniert im entsprechenden Zusammenhang einfach besser als ein teures italienisches Solisteninstrument. In meinem Arbeitsbereich habe ich inzwischen das Roland häufiger im Einsatz als das Bajan. Für ein puristisches Solokonzert sowie für detailreiche Studioaufnahmen kommt natürlich nur ein echtes Akkordeon infrage. Doch sobald Verstärkung und Show eine Rolle spielen oder wenn extrem unterschiedliche Sound-Geschütze aufgefahren werden müssen, spielt das V-Accordion seine Stärken aus.
Du hattest mit dem V-Accordion bereits prominente Gesellschaft, bist schon mit der bekannten „Kribbeln-im-Bauch-Sängerin“ Pe Werner aufgetreten. Wie wirkt das digitale Instrument auf deine musikalischen Partner? Wird der digitale Faktor ganz bewusst wahrgenommen, geschätzt oder beargwöhnt?
Wenn man die Aufmerksamkeit darauf lenkt, sehen es alle erst einmal als interessante Spaßkiste an, nicht als ernsthaftes Instrument. Akkordeon ist ohnehin für die meisten schon ungewöhnlich, aber ein elektronisches Akkordeon hat man noch nie gesehen und so ist man entsprechend skeptisch ‒ wenn Akkordeon wie ein seltenes Tier erscheint, wirkt das V-Accordion also wie ein Alien (lacht). Aber meistens interessieren die Details am Ende gar nicht. Wenn die Musik funktioniert, fragt keiner mehr nach. Pe Werner war anfangs auch sehr skeptisch, als ich es am Telefon erwähnte. Beim Gig spielte es keine Rolle mehr. Für Stefanie Hertel hatte ich mehrere Takes mit ganz verschiedenen Instrumenten eingespielt, das Bandoneon von Roland ist am Ende auf CD gelandet. Peter Werner von den Höhnern hatte sein Instrument zu einer Fernsehshow vergessen. Er nahm an, es wäre eins vor Ort. Er fragte nicht, warum mein Roland so groß und so leicht ist oder warum es Drehknöpfe hat. Hellmuth Karasek ließ es sich genau erklären, aber wir hatten ja nicht musikalisch miteinander zu tun. Steffen Mensching kennt mich überhaupt nur mit dem digitalen Instrument und die meisten Regisseure sind heilfroh, wenn sie sich nicht um die Details kümmern müssen und wenn alles unkompliziert für sie abläuft.
Worin siehst du Probleme und Perspektiven des Akkordeons ‒ in akustischer wie digitaler Hinsicht?
Dem digitalen Akkordeon stehen die gleichen Entwicklungspotenziale wie der gesamten Musikelektronik offen. Wenn man schaut, was in knapp 30 Jahren aus den Anfängen der Musikcomputer geworden ist, und wenn man ahnt, auf welcher Stufe der Entwicklung man gerade erst steht, kann man die Perspektiven kaum abschätzen. Es geht rasant vorwärts und selbst wenn das Akkordeon lediglich als Hardware-Interface in seiner Entwicklung stehen bliebe, entwickelt sich doch die Software weiter und mit entsprechend smarter Verbindung steht einem ein Universum zur Verfügung.
Problematisch ist dabei nicht diese Entwicklung an sich. Vielmehr könnten der Umgang damit und die Marktregulierung problematisch werden. Zwei Beispiele: Das neue FR-8X hat auch einen Looper an Bord. Wie sich die Musik damit aufbaut, ist für Publikum und Spieler immer wieder sehr faszinierend. Aber ein Loop bleibt ein Loop, also ein immer wiederkehrendes Segment. Durch die Faszination an der Technik gibt man sich dem oft einfach hin und schnell zufrieden. Wenn es ‒ wie so oft ‒ zum Selbstzweck wird und nicht als Werkzeug für eine höhere Aufgabe dient, kann ein Loop leicht stupide werden. Immer wieder begegnet man z. B. im Straßenverkehr Autos, aus denen in irrer Lautstärke zwanzigminütige monotone Drumloops mit nur kleinsten Veränderungen quellen. Ebenso kritisch scheinen mir fertige Loops. Ein Musiker wird unter diesen Umständen zum DJ. Es wird immer einfacher, Musik zu „machen“ und die Musik selbst hängt davon ab. Mein achtjähriger Schüler findet entsprechende Angebote und performt ohne Vorbildung auf Knopfdruck mit musikalischen Bausteinen ... Ravels „Bolero“ oder Ligetis „Continuum for Harpsichord“ sind natürlich geniale klassische Loops. Wobei die Bewertung derselben Musik mit im Laptop erzeugten Loop-Versatzstücken schon wieder ganz anders ausfallen würde als beim kompletten Livespiel. Wo fängt Kunst an, wo hört Handwerk auf? Ab wann ist es Playback und Betrug? Wie sinnvoll ist es, alles live zu machen? Wie sinnvoll ist es, Elektronik spielen zu lassen? Mit diesen Möglichkeiten sollte man verantwortungsvoll, kulturvoll und kreativ umgehen.
Die Marktregulierung hat z. B. den Einbau eines komplexen Motoren-Mechanismus bewirkt, der wieder Luftdurchlass simuliert, um den Akkordeonisten den Wechsel zwischen akustischem und digitalem Instrument zu erleichtern. Mit dieser Entwicklung nähert man sich dem Balgverhalten des akustischen Instruments an. Das ist zwar eine technische Meisterleistung, aber in meinen Augen ein unnötiger Schritt. Akkordeonbauer und Spieler streben normalerweise nach wenig Luftverbrauch. Mit dem V-Accordion tendiert er naturgemäß gegen null und alle sollten zufrieden sein. Beim ersten Ausprobieren ist es dieser Umstand jedoch recht ungewohnt und beim Wechsel vom akustischen zum digitalen ist es jedes Mal eine Umstellung. Auf diese Kritik ist man eingegangen und nun verbraucht ein Digitalakkordeon künstlich Luft und die Balgwechselfrequenz wird wieder erhöht, die möglichen Spannungsbögen also wieder verkürzt. Kundenanfrage erfüllt, Kaufanreiz erhöht. Musikalisch ist das unnötig, fast schädlich. Doch zum Glück kann man den Durchlass bis auf null regulieren. Ich würde mir persönlich mehr Augenmerk auf Sounddesign und Klangsynthese wünschen.
Das akustische Akkordeon ist meiner Meinung nach am Zenit angekommen oder hat ihn teilweise bereits überschritten. Die meisten guten Instrumente wurden in den 60er- und 70er-Jahren gebaut. Es war wissenschaftlich sowie gesellschaftlich die beste Zeit dafür. Die Produktion von damals scheint heute unbezahlbar zu sein. Ökonomisierte Veränderungen am Instrument führen nicht immer zu den gleichen guten Ergebnissen. Zuerst wurde es auf Lautstärke hin optimiert, dann auf Sonorität, später war die Mechanik im Fokus und nun scheinen die Optik und das Handling eine Priorität zu bekommen. Dies ist aber keineswegs nur negativ zu sehen. Die Mechanik, die Analogtechnik, die Geige sind weitgehend erforscht und perfektioniert, ändern sich nur noch wenig. Das sehe ich beim Akkordeon ähnlich. Es hat inzwischen schon Tradition und seine Plätze in der Musikwelt behauptet. Man kann ja nun wirklich nicht mehr davon sprechen, dass das Akkordeon im klassischen Konzertsaal fehlt. Im Jazz ist es geradezu bevorzugt, weil es „anders“ und flexibel ist. In der Volksmusik ist es sowieso vertreten und wer weiß, wo es noch überall auftauchen wird. Es gibt sogar Metal mit Akkordeon.
Kommen wir zum Pädagogischen: Du bist auch als Lehrbeauftragter für Akkordeon tätig ‒ was ist dir als musikalische Botschaft gegenüber deinen Studenten besonders wichtig?
Üben ist Philosophie und Meditation. Üben ist schön. Üben formt die Seele, gleicht aus und fördert die Intelligenz. Üben bildet die eigene Ästhetik und die Technik aus. Macht bitte alle Fehler, lasst keinen aus! Freut euch am Überwundenen und Erreichten und lasst andere daran teilhaben. Wenn ihr im Konzert nur eine einzige Seele berührt, ist das genug!
Als ich jahrelang zehn Stunden am Tag übte, glaubte ich, das Leben zu verpassen. Als ich jedoch einige Jahre kaum übte, glaubte ich, mich selbst und die Musik zu verlieren. Das richtige Maß und Orientierung auf Probleme sind wichtig. Wechselt die Perspektiven: sehr langsam, sehr schnell, sehr laut, sehr leise, übt mit Instrument und ohne. Versucht euch vom Stück und der Technik zu distanzieren, dann wieder voll darin zu versinken und zu analysieren. Gebt nicht auf, bevor es auswendig geht. Übertragt die Musik in Bilder oder Geschichten, versucht Farben zu finden, Geschmack, Geruch, Gefühl. Verbindet Instrument, euch selbst, das Publikum und die Musik miteinander.
Was wünschst du dir für das Akkordeon ‒ instrumentenbaulich, kulturell, für die Hörer?
Neue Offenbarungen an Kulturen für das Akkordeon sind wünschenswert. Als Lernender stößt man häufig auf ganz neue Welten ‒ jede Region und jede Zeit bringt ihren eigentümlichen Stil mit. Die letzte spannende Entdeckung gab es für mich mit vierteltönigen Akkordeons aus dem Libanon. Das hatte ich noch nie gehört und auch nicht für möglich gehalten. Ich hoffe, dass die Eigentümlichkeiten von Persönlichkeiten, Epochen und Nationen erhalten bleiben bzw. neue Stile entstehen und dass man sich nicht auf durch Globalisierung entstandene wenige Leitkulturen beschränkt.
Tipps vom Profi – Uwe Steger empfiehlt
Hört eurer Lieblingsmusik aufmerksam zu und versucht sie zu adaptieren. Entwickelt dabei eigene Spielweisen und fragt nicht nach Vorlagen wie z. B. Noten. Kümmert euch in erster Linie um die Musik und deren Wirkung, ihr liebt sie sowieso und die Technik kommt mit der Übung. Hört Euch selbst zu und gebt euch genug Zeit.