#31..Best of

Dieser Artikel stammt aus akkordeon_magazin, Heft #31 vom April/Mai 2013

Gigantisch global

Die Welten des Richard Galliano

Text: Dr. Thomas Eickhoff; Fotos: Vincent-Catala; Jacky Lepage

Der französische TV-Kulturkanal arte, der einer nationalpatriotischen Engstirnigkeit eher unverdächtig sein dürfte, sah bereits anno 2006 in dem Südfranzosen Richard Galliano den vielleicht „größten Akkordeonisten der Welt“, ohne dabei allzu schnell Vorschusslorbeeren verteilen zu wollen; man finde ihn auf der Bühne in stets guter Begleitung von Perkussions, Geige und Kontrabass. Ein Umstand, den der Akkordeon-Maestro indirekt bestätigte, indem er seine Bühnensituation als konzertierender Künstler gleich einem kommunikativen Akt darstellte, bei dem er sich selbst – in absolut glaubwürdiger Bescheidenheit – zurücknimmt: „Ich mag es, wenn jeder seine Stimme spielt und man dann zu viert ins Gespräch kommt: Zuerst ist der Bassist an der Reihe, dann der Perkussionist oder der Geiger ... und ich höre zu! Für mich ist es wirklich das Schönste, wenn ich nicht mir selbst zuhöre, sondern den anderen. Meine Musik lebt zu 80 % von Jazz, aber auch von Tango, Chanson und lateinamerikanischen Rhythmen. Ich liebe brasilianische, venezuelanische oder kolumbianische Musik, aber auch Mozart.“

Das freie Akkordeon

Wer Galliano persönlich erlebt und kennengelernt hat weiß, dass Überheblichkeit oder die Koketterie mit musikalischen Eitelkeiten, gar das „fishing for compliments“ ihm fern sind, so zurückhaltend, diskret und freundlich leise begegnet einem jener Akkordeonist, der als Globalplayer seines Instruments vordergründige Attitüden nie nötig hatte. Zu sehr war Galliano immer schon von einem unbedingten Ausdruckswillen auf dem Akkordeon getragen, als dass Äußerlichkeiten je hätten maßlos Raum greifen können, da die „unendliche Vielfalt der Musik“ ‒ um hier ein prägendes Wort des großen Leonard Bernstein zu zitieren – eigentlich schon immer die treibende und charakteristische Kraft für Gallianos musikalische Wege und Werke waren.

Das Akkordeon an seiner Seite: „Victoria“ ‒ Gallianos Gefährtin, Geliebte ...?!

Das Akkordeon ist ihm dabei Gefährte, Medium, musikalische Geliebte. Während einer Begegnung in seiner Pariser Wohnung liegt das Akkordeon neben ihm auf dem Sofa. Es ist das Instrument, welches Galliano wie ein Leitmotiv in den letzten fünfzig Jahren, seit 1963, stetig begleitet hat. Ob neben dem Trompeter Wynton Marsalis, der Chansonsängerin Barbara oder bei der Interpretation von Werken Bachs. Besonders gegenwärtig ist es ihm derzeit bei Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, die Galliano Mitte 2012 für die Deutsche Grammophon erfrischend neu eingespielt hat. Der statt Violine und Orchester mit Akkordeon und Streichquintett vollführte Zyklus ist eine spektakuläre CD-Novität, die – wie Gallianos Vorgängeralben „Bach“ und „Nino Rota“ – den Tonträgermarkt der Klassik ungemein beleben dürften. Galliano ist auch hier global und universal, ohne jemals in Schubladen zu verfallen, wenn er sagt: „Es gibt keinen Bruch zwischen Bach, Rota, Barbara, Vivaldi.“ Musik ohne Grenzen, frei und befreiend.

Von den Anfängen bis zum Jazz

Gallianos Akkordeon-Erfahrungen sind tief in der Kindheit verwurzelt; sein Vater Lucien ist ebenfalls Akkordeonist, „ein sehr diskreter, beinahe schüchterner Mensch. Niemand, der jemandem irgendetwas aufdrücken würde – schon gar nicht seinem Sohn“, wie dieser anmerkt. Obschon Galliano nicht zwangsläufig Akkordeonist werden musste, stand andererseits natürlich fest, dass er seinen Vater beim Akkordeonspiel beobachten würde. Insofern war er sein erstes Vorbild. Aber „Papi“ habe ihn nie dazu angehalten, Akkordeonist oder Musiker zu werden: „Diesen Wunsch habe ich ganz allein entwickelt. Schon als kleiner Junge habe ich versucht, mir ein Akkordeon aus Papier zu bauen. Gott sei Dank bekam ich bald darauf mein erstes richtiges Instrument.“

Maßgeblich beeinflusst wurde Galliano auch von einem Akkordeonisten aus Nizza, der ihn mit dem Repertoire der italienischen Orgel-Schule vertraut machte, ebenso wie die Zeit am Konservatorium von Nizza für ihn wichtig war. „Der Direktor dort hieß Pierre Cochereau ‒ ein fantastischer Lehrer und Organist, der großartig improvisieren konnte. Im Rückblick waren die guten Lehrer immer diejenigen, die einen dazu brachten, über das Repertoire des eigenen Instruments hinauszuhören. Ein Akkordeonist sollte sich zum Beispiel mit Orgelmusik befassen.“

 

Und der Jazz? Zu ihm gelangte Galliano vor allem über Aufnahmen; im Alter von zehn Jahren hörte er erstmalig etwas von Art Van Damme, dem großen Jazz-Akkordeonisten. Für den kleinen Jungen, der bis dahin nur Jazziges, aber keinen richtig improvisierten, amerikanisch geprägten Jazz kannte, war das eine Offenbarung, denn er kannte keinerlei Aufnahmen, bei denen das Akkordeon so swingt, als ob es schon immer ein klassisches Jazzinstrument gewesen wäre. Galliano stand mit Art Van Damme seit einigen Jahren und bis zu dessen Tod in Kontakt. Bewunderung und Respekt spricht aus Gallianos Worten, wenn er über Van Damme resümiert: „Er war es, der mir den Weg gewiesen hat. Ich bin froh, dass ich ihm das auch sagen konnte.“ Gallianos Wunsch, mit der amerikanischen Ikone des Jazz-Akkordeons irgendwann einmal im Duo zu musizieren, ging allerdings nicht mehr in Erfüllung; der 1920 geborene Van Damme starb im Jahr 2010, kurz vor seinem 90. Geburtstag.

 

Piazzolla, „Musette nouveau“ und Bach

Zu Gallianos prägendsten Marksteinen seiner musikalischen Entwicklung gehört fraglos die Freundschaft mit dem Komponisten und Bandoneonisten Astor Piazzolla (1921-1992). In dessen Gegenwart wurde ihm sofort klar, dass man es mit einem Unverwechselbaren zu tun hatte. Den Ernst und die Disziplin, mit der Piazzolla Musik schuf, hat Galliano seitdem nur noch bei Kollegen aus der Klassik erlebt. Piazzolla war offenbar eine warnende Instanz, bedenkt man seinen damaligen Rat an Galliano, der zu jener Zeit „bis über beide Ohren“ im Jazz steckte: „Pass auf, dass du dich nicht zu sehr dem amerikanischen Jazz annäherst!“ Piazzolla schien zu wissen, dass sich ein Musiker immer auch mit den Musiktraditionen des eigenen Landes beschäftigen sollte, so wie er es als Schöpfer des Tango Nuevo vorgelebt hatte: „Dank ihm fing ich an, all das wiederzuentdecken, was meiner Musik bei allen Jazzeinflüssen eine sehr französische Note verleiht. Die alten Filme mit Jean Gabin, die Musik zu diesen Filmen, das alte Montmartre und seine Chansons, die Musette-Walzer, die Poesie des alten Paris.“

 

Piazzolla brachte Galliano schließlich auf die Idee des „Musette nouveau“: Der Argentinier hatte selbst den Tango künstlerisch zum „Tango Nuevo“ entwickelt, sodass es nahe lag, den Franzosen an seine musikalischen Wurzeln zurückzuführen. Zumal Piazzolla als Bandoneonist ein dem Akkordeon durchaus ähnliches Instrument spielte, animierte er Galliano, mit der Musette einen ähnlichen Weg einzuschlagen, wie der Akkordeonist rückblickend erzählt: „Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem er zum ersten Mal davon gesprochen hat. Ich hatte ihn vom Flughafen abgeholt, als er im Auto plötzlich zu mir sagte: ‚Richard, du musst unbedingt die Musette nouveau erfinden!ʻ“ Der Rest ist Geschichte. In weltweiten Konzerten und auf zahlreichen Tonträgern war und ist Gallianos unverwechselbares Musizieren à la Musette nouveau in stilprägender Weise zu erleben.

 

Vor diesem Hintergrund ist Richard Galliano sicherlich auch vielen Musikkennern außerhalb der Akkordeonwelt eher als weltmusikalischer Allrounder denn als Interpret klassischer Musik bekannt, obwohl er Anfang der 70er-Jahre bereits mit furiosen Darbietungen klassischer Virtuosenstücke brillierte – ein eindrucksvoller Beleg ist ein Youtube-Video mit dem Finalsatz aus Tschaikowskys b-moll-Klavierkonzert als Fassung für Akkordeon solo.

 

Die 2010 erschienene Bach-CD war daher in doppelter Hinsicht eine Neuentdeckung – zum einen für die Freunde Bachs, zum anderen für die Freunde des Richard Galliano, der das altehrwürdige „Gelb-Etikett“ der Deutschen Grammophon neu erstrahlen ließ und als musikalischer Weltbürger im damaligen Alter von fast 60 Jahren den Ernst der Lage klassischer Musik erkannt hatte, wenn er schrieb: „Wie kreiert man noch eine neue Version der Violinkonzerte, der Cellosuiten, der Stücke für Cembalo oder für Orgel nach den wundervollen Aufnahmen großer Interpreten wie Glenn Gould, Pablo Casals, Isaac Stern ...? Für Akkordeon und Bandoneon sind noch alle Möglichkeiten vorhanden, und mit der vorliegenden Aufnahme eröffnet sich diesen Instrumenten ein Königsweg. Ich bin stolz und glücklich, der ,Pionierʻ zu sein.“

 

Noch zugespitzter hatte es Galliano bereits 2009 anlässlich eines Interviews formuliert: „Für mich ist Bach der größte Akkordeon-Komponist. Das mag paradox klingen, weil es das Akkordeon zu seinen Lebzeiten noch nicht gab. Jeder, der dieses Instrument spielt, sollte sich mit der Musik von Bach auseinandersetzen. Übrigens nicht nur mit dem Orgelwerk. Auch die ,Kunst der Fugeʻ kann auf dem Akkordeon fantastisch klingen. Wenn ich allein übe, ist immer etwas von Bach dabei. Das bringt etwas für die Technik und ist dabei unglaublich musikalisch. Vielen meiner Freunde geht es genauso, auch wenn sie stilistisch eigentlich etwas ganz anderes machen: Mein Bassist Philippe Aerts, der überwiegend im Jazz zu Hause ist, spielt Bach auf dem Kontrabass. Was Bach geschaffen hat, ist wahrhaft universelle Musik.“

„Vivaldi“ ‒ im neuen Gewand

2011 erschien  das Album „Nino Rota“ mit eigenwillig von Galliano arrangierten Filmmusiken der Streifen Federico Fellinis. Erst  drei Jahre nach Erscheinen der Bach-CD widmet sich  Galliano nun mit dem neuen Album „Vivaldi“ wieder einem barocken Meisterkomponisten.  „Gute Musik braucht Zeit, manchmal auch Freundschaft. Deswegen halte ich auch nichts von diesen Star-Begegnungen, die sich Plattenfirmen gern ausdenken. Mit wem ich zusammen spiele, überlasse ich lieber den Zufällen des Lebens“, bemerkte Galliano bereits Jahre zuvor. Eine weitere Neuerscheinung wäre – so exzellent sie auch sein mag – nicht sonderlich erwähnenswert, würde sie nicht einen Novitäten-Charakter von außergewöhnlicher Bedeutung in sich tragen, wie es ihn in der Welt des Akkordeons bis dato noch nie gegeben hat. Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ zählen zu den populärsten Werken der Musikgeschichte und stellen nicht zuletzt deshalb eine besondere Herausforderung für den Interpreten dar. Und so hat Richard Galliano sich auch nicht ohne Besorgnis auf das „Vier-Jahreszeiten-Abenteuer“ eingelassen, da über Jahrzehnte bereits so viele Versionen aufgenommen wurden. Von Anfang an gab es eine zwingende Notwendigkeit: das Streichquintett seiner Bach-Aufnahmen als Kulisse zu bewahren, bei der das Akkordeon in die reale Situation eines barocken Instruments platziert wird. Galliano erinnert sich, dass er Auszüge aus den „Vier Jahreszeiten“ als Jugendlicher gespielt hat und er als Akkordeonist sein eigenes, vollständiges Orchester sein wollte. Es war ein Test der Virtuosität, aber es war genau die klassische Einstellung, die fehlte.

 

Ein paar Jahrzehnte später entschied sich Richard Galliano für eine gewisse Reinheit. „Das ist das, was meine Reife ausmacht: heute nach viel mehr Einfachheit zu schauen. Mit dieser Aufnahme habe ich erkannt, wie schön es mit dem Akkordeon ist, manchmal mit einem einzigen Finger einen sehr reinen, sehr punktuellen Klang zu erzeugen, voller Poesie und Emotion.“ Daher ist es kein Zufall sich zu entscheiden, in den Largo- und Adagio-Sätzen diese reinsten Töne zu verwenden. Ein Flöten-Klang kann so zur Seele des Akkordeons werden. „Ich neige dazu, diese langsamen Passagen auf dem Akkordeon zu bevorzugen. Man erreicht einen klagenden Ton, weniger extravagant als mit einer Geige.“

 

Galliano hörte Dutzende Interpretationen mit berühmten Violinisten, als er die Aufnahme vorbereitete. Unaufgefordert erwähnt er Geiger wie Giuliano Carmignola ‒ „bezaubernd, sehr extravagant“ ‒, aber auch Gidon Kremer, Anne-Sophie Mutter oder eine Version mit dem Dirigenten Herbert von Karajan ‒ „viel gesetzter und ruhiger“. „An einem Punkt vergaß ich alle von ihnen, aber ich entnahm jeder Aufführung eine gewisse Information.“

 

Für Galliano ist es keine Überraschung, dass das Publikum Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ so sehr liebt. „Die Themen sind wie Lieder aufgebaut: Einfache, sich wiederholende melodische Zellen, die entwickelt werden können. Es ist optimistische Musik. Selbst im ,Winterʻ-Concerto. Es endet mit einem großen Maß an Energie, eine große Hoffnung in einem hochvirtuosen Fragment. ,Winterʻ ist sehr schön, und der Winter des Lebens auch“, sagt Galliano mit einem Lächeln. Er sieht die „Vier Jahreszeiten“ vor allem als die Jahreszeiten im Leben. Eine Frage des Alters und der Reife.

 

 

Der Akkordeonist von Welt

 

Gallianos Wege und Werke

Geboren am 12. Dezember 1950 in Cannes als Sohn von Lucien Galliano, einem Akkordeonlehrer italienischer Herkunft, begann Richard Galliano im Alter von vier Jahren mit dem Akkordeonspiel. Neben dem Unterricht auf diesem Instrument erhielt er eine musikalische Ausbildung am Konservatorium in Nizza, wo er Harmonielehrer, Kontrapunkt und Posaune studierte. Mit 14 Jahren entdeckte er den Jazz durch Clifford Brown, spielte dessen Themen und wunderte sich, dass das Akkordeon in dieser Musik so selten Verwendung fand. Er begann, sich für die brasilianischen Akkordeonspieler zu interessieren (Sivuca, Dominguinhos), entdeckte die amerikanischen Spezialisten, die auch Jazz gespielt hatten (Tommy Gumina, Ernie Felice, Art Van Damme), und die italienischen Könner (Felice Fugazza, Volpi, Fancelli), während er das traditionelle Spiel, das in Frankreich dominierte, vollständig ablehnte. 1973 ging Galliano nach Paris, wo er Claude Nougaro überzeugte. Drei Jahre lang war er Arrangeur, Dirigent und sogar Komponist in einer Gruppe von echten Jazzmusikern. Er wirkte zudem an zahlreichen Aufnahmen von Chansons (Barbara, Serge Reggiani, Charles Aznavour, Juliette Gréco usw.) und Filmmusik mit. Anfang der 1980er-Jahre suchte er immer häufiger Gelegenheit, mit Jazzmusikern jeglicher Couleur zu arbeiten und an ihrer Seite zu improvisieren: mit Chet Baker (über brasilianisches Repertoire), Steve Potts, Jimmy Gourley, Toots Thielemans, dem Cellisten Jean-Charles Capon (mit dem er seine erste Platte machte), Ron Carter (mit dem er 1990 Duo-Aufnahmen machte) ...

 

1991 kehrte er auf Anregung Astor Piazzollas, den er 1983 anlässlich einer Bühnenmusik für die Comédie Française kennengelernt hatte, zu seinen Wurzeln zurück und wandte sich wieder dem traditionellen Repertoire der Musette-Walzer, „javas“, „complaintes“ und Tangos zu, das er lange Zeit nicht beachtet hatte. An Gus Viseur und Tony Murena anknüpfend, befreite er das Akkordeon von seinem altbackenen Image ‒ durch Arbeit am Dreiertakt, eine andere rhythmische Konzeption und eine veränderte Harmonik, die es dem Jazz annäherte. Die wegweisende Aufnahme „New Musette“ (Label bleu) mit Aldo Romano, Pierre Michelot und Philip Catherine trug ihm 1993 den Django-Reinhardt-Preis der Jazz-Akademie ein, der den „französischen Musiker des Jahres“ feiert.

 

Seine ungewöhnliche Vielseitigkeit befähigt Richard Galliano, sich mit großer Musikalität in jedem Kontext auszudrücken, von Soloauftritten (beispielsweise das 2009 erschienene „Paris Concert“ im Théâtre du Châtelet) bis zur Big Band (mit dem Brussels Jazz Orchestra 2008).

 

Inzwischen als überragender Solist anerkannt, widmet Galliano sich weiterhin einem breit gefächerten Spektrum unterschiedlicher Musik. Dabei verzichtet er weder auf die Lyrik, die sein Spiel in den Aufnahmen der Balladen in „Love Day“ mit Gonzalo Rubalcaba, Charlie Haden und Mino Cinelu prägt, noch auf jenen französischen Touch, der ihm erlaubt, mit dem Trompeter Wynton Marsalis die Verbindung zwischen Billie Holiday und Edith Piaf herzustellen. Um seinen reichen Erfahrungsschatz weiterzugeben, hat er zusammen mit seinem Vater Lucien ein Akkordeon-Lehrbuch verfasst, das 2009 mit dem Sacem-Preis für das beste pädagogische Werk ausgezeichnet wurde.

Vincent Bessières

 

„Meine Victoria“

Richard Galliano über „sein“ Akkordeon

Um ihrem talentierten Sohn Richard ein Akkordeon zu schenken, verkaufte Gallianos Großmutter einst ein Grundstück in Italien. Noch heute spielt Galliano auf diesem Instrument, das ihn bei all seinen Projekten stetig begleitet – von Klassik über Jazz bis zum „Musette nouveau“.

 

Ein anderes Instrument zu spielen kann er sich nicht vorstellen, weil es eine musikalische Erweiterung seiner selbst zu sein scheint. Zum Akkordeon im Allgemeinen und seinem Instrument im Besonderen hat sich Galliano recht detailliert geäußert:

 

„Das Akkordeon ist letztlich nichts anderes als eine Orgel – eine Orgel, die man mit sich herumtragen kann. Der Tonumfang ist natürlich geringer. Dafür hat das Akkordeon einen entscheidenden Vorteil: Der Akkordeonist selbst erzeugt den Luftstrom, der das Akkordeon zum Klingen bringt. Ein Akkordeon lässt sich deshalb noch nuancierter und expressiver spielen als eine Orgel.

 

Mein Instrument ‒ eine „Victoria“ aus Italien ‒ spiele ich seit 1963. Ein wunderbares Instrument. Die Stimmzungen im Inneren, die beim Spielen in Schwingung geraten, sind immer noch original. Das ist das Wichtigste, weil diese Metallplättchen am stärksten den Klang bestimmen. Sie sind so etwas wie die Seele des Instruments.

 

Seit 50 Jahren spiele ich nun dasselbe Instrument, aber nicht aus Nostalgie, sondern weil es von all meinen Instrumenten einfach das beste ist. Es hat einen ganz besonderen Klang. Und eine unheimliche Power.

 

Natürlich gibt es auch gute neue Instrumente. Aber die aus den 50er- und 60er-Jahren sind von ganz besonderer Qualität ‒ ob Gitarren, Saxofone oder Akkordeons. Erfreulicherweise haben viele Hersteller mittlerweile erkannt, dass man dieses Niveau erst einmal erreichen muss, bevor man sich über irgendwelche Neuerungen Gedanken machen sollte.“

 

Aller guten Dinge sind gelb ...

Die drei Galliano-CDs bei „Deutsche Grammophon“

Bis jetzt hat Richard Galliano drei Akkordeon-CDs bei jenem Major-Label herausgebracht, das jeden Künstler, der unter der Ägide des markanten Firmenlogos ‒ des sogenannten „Gelb-Etiketts“ ‒ in Erscheinung tritt, zu adeln scheint. In dieser Hinsicht hat Galliano eine bahnbrechende Tat vollbracht und das Akkordeon mit der 2010 erschienenen Bach-CD in eine Liga von Ansehen und Reputation befördert, die vor wenigen Jahren wohl niemand so recht für möglich gehalten hätte. Auch beim altehrwürdigen „Grammophon“-Label des Branchen-Riesen „Universal Music“ haben sich Konzepte hinsichtlich des schrumpfenden Klassikmarktes ‒ notwendigerweise ‒ verändert.

 

Gallianos brillante Debüt-CD beim Gelbetikett. Das klangliche Resultat ist ein Bach in Reinform – präsentiert mit Akkordeon in Streicherbegleitung. Die Werkauswahl beschränkt sich im Wesentlichen auf Bach-Kompositionen mit konzertierenden Soloinstrumenten, die originalgetreu wiedergegeben werden, mit der entscheidenden Ausnahme: Den Solopart übernimmt grundsätzlich Galliano. Was ansonsten von der Geige, dem Cembalo oder der Flöte gespielt wird, vollführt der Akkordeonist mit großer Noblesse, höchst stilsicher und klangvollendet auf dem Melodiebass-Akkordeon, das äußerst gelungen in den gut austarierten Streicherklang auch aufnahmetechnisch integriert ist.

 

So kreativ und inspiriert wie Fellinis Filmusikkomponist Nino Rota war, agiert hier auch das „La Strada Quintet“ von Richard Galliano. Für seine spannenden Interpretationen stellte Galliano (der hier nicht nur Akkordeon und Akkordina, sondern auch Posaune spielt) eine ganz besondere kosmopolitische Band zusammen. Der italienische Charme der Musik, ihre Volkstümlichkeit und wohldosierte Sentimentalität, bleibt in einem brillanten Klanggewand des superb aufspielenden Quintetts um Galliano gewahrt und fasziniert. Alles andere als konventionelle Klänge – auch für den eingefleischten Galliano-Fan – die Rota als eigenwilligem Giganten der italienischen Filmmusik auf faszinierende Weise Tribut zollen.