Dieser Artikel stammt aus akkordeon_magazin, Heft #28 vom Oktober/November 2012
Brennende Harmonika mit Haut und Haar
Impressionen einer Spurensuche: Hubert von Goisern scheint unfassbar, unergründlich, nah und zugleich weit, weit weg – ob im gebirgigen Höhenflug, erdigen Tiefgang oder arktischen Eis. Zum 60. Geburtstag eines Grenzgängers der Neuen Volksmusik am 17. November 2012
Text: Dr. Thomas Eickhoff; Fotos: Archiv; ZDF, Jürgen Skarwan, Murauer
Für eine Sache zu brennen ist nicht ungefährlich. Glühende Leidenschaft, die ein Feuer der Begeisterung von großer Triebkraft entfachen kann, birgt immer auch die Gefahr von Zerstörung. Was brennt, kann auch verbrennen, wird die treffliche Dosis des Feuers zwischen erwärmender Behaglichkeit und unerträglicher Hitze verfehlt. Burn-out – na ja. Ob die Kerze brennt oder die Hütte – das ist ein großer Unterschied. Hubert von Goisern trachtet danach, das „Spiel mit dem Feuer“ offenbar in seinen musikalischen Erkundungstouren immer wieder auszuloten. Weltweit. Mit seiner Steirischen Harmonika ist er ein Grenzgänger im Zentrum, am Rande oder gar am Abgrund von Plattformen und Genres, deren Korrespondenzen und Verbindungen vielleicht nicht im Ansatz erfahrbar wären, würde Hubert von Goisern nicht faszinierende Brücken schlagen zwischen Höhen und Tiefen, Berg und Tal, Feuer und Eis. Und das alles mit der Harmonika – der Steirischen!
„Brenna tuats guat“ ‒ Feuer und Eis
Der Goisern und die Steirische: Instrument und Spieler scheinen füreinander zu brennen – ohne einen musikalischen Flächenbrand zu entzünden. Obwohl apokalyptische Visionen aufscheinen mögen, wenn der Goisern-Hit „Brenna tuats guat“ im Klanggewand rockiger Volksmusik den gegenwärtigen „Weltenbrand“ sozialer und ökologischer Katastrophen anprangert. Allein zwei Strophen von Goiserns Text sprechen da für sich; hier im Originaldialekt und – sicherheitshalber – in hochdeutscher Übersetzung:
wo is da platz Wo ist der Ort
wo da teufel seine kinda kriagt wo der Teufel seine Kinder bekommt
des is da platz das ist der Platz
wo allʼs zʼsamm rennt wo alles zusammenläuft
wo is des feuer wo ist das Feuer
hey wo geht ʼn grad a blitz nieder (hey) wo schlägt denn grad ein Blitz ein
wo is ʼn da der stadl wo ist denn da der Stall
wo de hüttʼn de brennt wo die Hütte verbrennt?
[...] [...]
jeder woass, dass a Jeder weiß, dass Geld
geld nit auf da wiesen wachst nicht auf der Wiese wächst
und essen kann maʼs a nit und essen kann man es nicht
aber brenna tuatʼs guat aber brennen tut es gut
aber hoazen toan ma woazen aber heizen tun wir mit Weizen
und de ruabn und den kukuruz und Rüben und mit Mais
wann ma lang so weiter hoazen wenn wir noch lange so weiterheizen
brennt da huat brennt der Hut
„Daheim wird Hubert von Goisern seit dem Hit ,Brenna tuats guatʻ wieder als Star gefeiert“, schrieben die Salzburger Nachrichten noch im Mai 2012. Und das vor dem Hintergrund eines mit dem Feuer wohl arg kontrastierenden Projektes, „denn der Musikwelterforscher von Goisern reiste Ende März zum zweiten Mal nach Grönland ‒ in eine fast menschenleere Weite und in soziale Tristesse“, wie berichtet wird: „Seine Neugier und Robert Peroni haben Hubert von Goisern nach Ostgrönland gebracht. Peroni hat sich bei einer Tour über das Inlandeis in das Land verliebt, er betreibt das Red House in Tasiilaq. Es ist eine Unterkunft für Abenteurer und Touristen und eine Art Sozialprojekt. Peroni stellt nur Einheimische an, er engagiert sich für Jugendliche, deren Lage besonders aussichtslos ist: keine Arbeit, viel Alkohol, hohe Suizidrate. Auf der Suche nach einem, der sich ,auf eine fremde Kultur einlässt und jungen Leuten vielleicht eine Perspektive öffnetʻ, war Peroni ‒ und er fand den Goiserer. Der kam in ,etwas völlig Unbekanntemʻ an. Es ist ein schwieriges Unternehmen. Die Menschen sind scheu. Berührungspunkte gibt es wenige.“
Für Hubert von Goisern eine Herausforderung – und mit seiner Harmonika schien das Eis schnell gebrochen, denn, so ist weiter zu lesen: „Zwei Konzerte spielt Hubert von Goisern ‒ allein, nur mit Gitarre oder Ziehharmonika. Eines im Forsamlingshuset in Sermiligaaq, eines in einer Bar in Tasiilaq. Immer wenn er die Ziehharmonika auspackt, gerät das Publikum in Bewegung. Bei den Jodlern herrscht berührte Stimmung, so als ob die Zuhörer Vertrautes erkennen.“
Tour de force – Konzerte und Filme
Offenkundig bringt der Harmonika-Goisern überall Bewegung in die Gemüter seiner Zuhörer, erst recht, wenn man schon jetzt Bilanz seiner Konzerttourneen zieht. Nach dem 2011er Sensationserfolg seines neuen Albums „Entwederundoder“ steht das Jahr 2012 ganz im Zeichen der „Brenna Tuats“-Tour mit rund hundert Konzerten von Zürich über Graz bis nach Hamburg. Und als Special: In einem zweiteiligen, vom österreichischen Fernsehen (ServusTV) produzierten Film zur Tour werden Goisern und seine Band exklusiv begleitet – von den ersten Proben im heimischen Studio bis zum Höhepunkt seiner Konzerttournee am Red Bull Ring in Spielberg. Teil eins des Tourfilms ist mit von der Partie, wenn Hubert von Goisern und seine Band erstmalig im heimischen Studio und auf ausgewählten Konzertbühnen proben, Teil zwei des Films dokumentiert u. a. seine vielbeachteten Konzerte in Salzburg, Köln, Wien sowie an der Rennstrecke des Red Bull Rings in Spielberg. Die Begeisterung schien überzuschwappen: Mit seinen Hits des aktuellen Albums „Entwederundoder“ und Klassikern der letzten zwanzig Jahre verwandelte Hubert von Goisern den Red Bull Ring in Spielberg in eine Alpinrock-Hochburg. Im Rahmen der Reihe „Musikrausch – Der Konzertsommer“ zeigte ServusTV den Künstler somit in Bestform auf seiner „Brenna Tuats“-Tour 2012 – aufgezeichnet am 14. Juli 2012 vor Tausenden von Fans an der Rennstrecke (Sendetermin auf ServusTV war der 26. Juli 2012).
Die Nähe zur Heimat wie das Fernweh, die Entdeckerneugier allgemein, treiben Hubert von Goisern voran – und das nicht nur im Aufnahmestudio und auf den Konzertbühnen, sondern auch im Film. Dokumentierte das österreichische Fernsehen jüngst seine Erfolgstour, so war Goisern schon Jahrzehnte zuvor dabei, sich mit dem Filmgenre zu beschäftigen. Der Musiker wusste sich bereits Mitte der 90er-Jahre als Filmschauspieler erfolgreich in Szene zu setzen – wiederum im Rahmen einer gewissen Auseinandersetzung mit den Begriffen „Volkskultur“ und „Heimat“, denn jener Film namens „Hölleisengretl“, der später mit Preisen hochdekoriert wurde, gilt als „Heimatfilm“ der innovativen Art und dürfte somit den „heimatkundlichen Ambitionen“ eines von Goisern durchaus entsprochen haben.
Der Musiker als Schauspieler
„Hölleisengretl“ basiert auf der Erzählung von Oskar Maria Graf (1894‒1967), dessen Geschichte von der buckligen Hölleisengretl (aus dem Band „Kalendergeschichten“, 1929) weitgehend auf authentische Geschehnisse zurückgeht. „Ein Heimatfilm, in starken, von Detailtreue geprägten Bildern. Aus der kargen Genauigkeit des bayerischen Dialekts heraus entstehen Charaktere, in deren Abgründe wir uns einrichten dürfen, als seien es die eigenen“, befand die Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste, die Jo Baier bei den Baden-Badener Tagen des Fernsehspiels 1995 mit dem Sonderpreis für die Regie zu „Hölleisengretl“ auszeichnete. Der Film erhielt außerdem eine Telestar-Nominierung und bedeutete für die inzwischen international renommierte Schauspielerin Martina Gedeck in der Titelrolle den Karrieredurchbruch. „Hölleisengretl“ ist eine Beziehungstragödie aus der Nachkriegszeit zwischen einer buckligen Hoferin und einem Kriegsheimkehrer im Alpenland, gespielt von Hubert von Goisern.
„Manchmal haben wir uns umarmt, wenn eine Szene abgedreht war“, erzählt von Goisern von seinen ersten Filmerfahrungen. „Wir mussten uns zeigen, dass der Hass nur gespielt war.“
Damals noch Chef seiner Erfolgsformation „Alpinkatzen“, spielte der „Alpenrocker“ in „Hölleisengretl“ den brutalen Ehemann einer charakterstarken Frau mit einem Buckel. Von Goisern: „Bei Regisseur Jo Baier ging es zu wie in einem Präzisionsuhrwerk ‒ so sorgfältig ist sein Drehbuch verfasst.“ Dieses Drehbuch, von der ersten bis zur letzten Seite mit der Hand geschrieben, hat Baier mit vielen Skizzen versehen, in denen er genau aufgeführt hat, wo und wie Kamera und Schauspieler sich bewegen mussten. Das war für den Schauspielneuling eine wichtige Hilfe: „Ich konnte mich an den präzisen Vorgaben festhalten.“
Nur mit einem hatte der perfekte Planer Jo Baier Pech: Weil er für die Hauptrolle einen richtigen Musiker brauchte, hatte er Hubert von Goisern die Rolle gegeben. Und weil er schon einen Musiker verpflichtet hatte, wollte er auch von ihm die Musik zur „Hölleisengretl“. Das ging schief. „Was ich komponiert habe, mochte Jo Baier nicht“, sagt Hubert von Goisern rückblickend. Kein Wunder, denn der Österreicher hatte eine Musik für Metallplatten und Glasflaschen geschrieben. Von Goisern steckte die Pleite locker weg und versuchte sein Komponistenglück mit Filmmusik zu „Schlafes Bruder“ von Josef Vilsmaier – und das mit Erfolg!
Von derlei Erfolgserlebnissen des Hubert von Goisern gäbe es noch viel zu berichten – alldieweil der Platz an dieser Stelle nicht ausreicht, gilt es sich auf „Impressionen“ zu beschränken, die in Ansätzen zeigen mögen, dass der Gipfelstürmer des oft als „Alpenrock“ etikettierten Genres der „Neuen Volksmusik“ vielerlei Routen durch Berge, Täler, Gewässer und Eis des weltweiten Musikkosmos erklommen hat. „Brenna tuats guat“ ist daher in doppelter Hinsicht ein verheißungsvolles Motto des Hubert von Goisern: Nicht nur die hohe Betriebstemperatur seiner „brandaktuellen“ Tournee kann damit gemeint sein; es ist auch die Erkenntnis, dass von einem der bedeutendsten Harmonikaspieler und Köpfe der „Neuen Volksmusik“ auch mit 60 noch viel zu erwarten ist. Denn Hubert von Goisern ist nach wie vor Feuer und Flamme, seine Freunde und Fans zu verzaubern – wie er dem akkordeon magazin im nachfolgenden Interview versicherte ...
Über Reisen, Heimat, Politik ‒ Fragen an Hubert von Goisern
Hubert von Goisern ‒ Crossover, Weltmusik oder Alpenrock sind gängige Begriffe, die gerne aufʼs Tapet kommen, wenn über Sie geredet wird. Das bedeutet Vielfalt und Musik jenseits üblicher Genre-Schubladen nach einer jahrelangen Wanderschaft quer durch die Welt. Ich denke da gerade an eine Titelliste Ihrer Lieblingsmusik, mit der sich Musikprofiler in der 3SAT-Fernsehsendung „Tonspur ‒ Der Soundtrack meines Lebens“ auf den Weg gemacht haben, um Sie aufzuspüren ‒ das schien schwierig bis unmöglich.
Sind Sie ein prinzipiell Nichtsesshafter, der nicht erkannt werden möchte? Oder sind Sie mit fast 60 Jahren inzwischen doch irgendwo angekommen?
Man ist ja auch als Reisender nicht permanent auf Achse. Man kommt immer wieder an, hält inne, verweilt, um dann wieder aufzubrechen.
Mal schauen wieʼs weitergeht im nächsten Jahr. Gegenwärtig bin ich noch unterwegs ...
Wo fühlen Sie sich denn zu Hause?
Das Zentrum meines Heimatempfindens liegt in mir. Aber natürlich gibt es auch ein externes Heimatgefühl. Die Vertrautheit einer Landschaft z. B. oder einer Sprachmelodie. Heimat ist auch da, wo ich Freunde habe. Und da, wo ich die meisten Freunde habe, fühle ich mich am meisten zu Hause. Also im Salzkammergut und im Salzburgischen. Im weiteren Sinn in Österreich, über die Jahre ist mir auch Deutschland zur Heimat geworden. Die vielen Tourneen führten dazu, dass sich Erinnerungen sammelten und verdichteten, was beim Wiederkehren Vertrautheit auslöst, das ist dann auch eine Art des Nachhausekommens.
Bei aller Vieldeutigkeit bewegen wir uns mal ins Epizentrum Ihres Musizierens: zur Steirischen Harmonika. Wo liegt der Ursprung Ihrer Beschäftigung mit diesem Instrument?
Da müsste ich zu weit ausholen. Vielleicht liegt der Ursprung in der Abwehr ‒ für mich war die Steirische lange ein Instrument der Reaktionären, Ewiggestrigen. Bis ich gemerkt habe, dass sie eigentlich ein super Bluesinstrument ist.
In Südafrika engagierten Sie sich gegen die Apartheid, der rechtspopulistischen FPÖ verboten Sie die Verwendung Ihrer Musik, die allgemein als sozialkritisch gilt. Ist die Harmonika ein besonders geeignetes Instrument für politische Manöver?
Die Harmonika ist nur ein Instrument von vielen. Entscheidend ist, was man damit macht. Ich halte nichts von der Politisierung der Musik. Musik ist viel größer als Politik, auch größer als Religionen. Größer im Sinne von „weiter“. Musik, selbst Volksmusik, ist a priori entgrenzend. Deshalb war ich so verärgert, als ich erfahren habe, dass meine Lieder auf Wahlveranstaltungen einer Partei gespielt und eingesetzt wurden, die sich die Ausgrenzung auf die Fahnen geschrieben hat.
Wie verorten Sie den Begriff „Volksmusik“ heutzutage?
Gar nicht. Ich bin Musiker und bewege mich außerhalb der Begrifflichkeit.
In dem erfolgreichen Fernsehfilm „Hölleisengretl“ aus dem Jahre 1995 feierten Sie unter der Regie von Jo Baier und an der Seite der mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichneten Martina Gedeck ihr Schauspieldebüt. Welche Erinnerungen haben Sie an die Dreharbeiten und die Filmrolle Ihrer treuen Begleiterin, der Harmonika?
Der Film „Hölleisengretl“ kam damals als Projekt direkt nach den Alpinkatzen, zu einer Zeit, in der ich von der Musik pausiert habe, ich habe das als spannende Abwechslung empfunden, als neue künstlerische Ausdrucksform. Und es war sehr interessant – die Harmonika stand damals aber nicht im Vordergrund.
Welches musikalische Erlebnis hat bei Ihnen den größten Eindruck hinterlassen?
Es sind deren zu viele und ich habe, vielleicht deshalb, auch keine Rangordnung meiner Erlebnisse.
Welche Botschaften möchten Sie mit Ihrer Musik aussenden?
Gar keine – ich will die Menschen verzaubern, sie in einen anderen Bewusstseinszustand versetzen, dem Geist und der Seele Fenster und Türen öffnen, auf dass sie sich frei bewegen und entfalten können.
Tipps vom Profi – Hubert von Goisern empfiehlt:
Gut zuhören –
aber nicht dreinreden lassen!
Steirische Harmonika und Neue Volksmusik
Gedanken von Bernhard Flieher in seiner Biografie über Hubert von Goisern
Wenn die Ziehharmonika, die Steirische, den ersten Schnaufer in das Lied hineintut, bewegt sie sich wie ein Wanderer während der ersten Schritte, bei einer Bergtour, die ihm unbekannt ist. Bedächtig und respektvoll nähert sich, wer bei einer solchen Tour nicht nur den Gipfel erreichen, sondern auch heil wieder zurückkommen will. Die Ziehharmonika tut mit ihren Atemzügen die ersten Schritte langsam auf den Berg zu.
Es ist der Berg, aus dem sie selbst gewachsen ist. Ein mächtiges Massiv aus Vergangenheit türmt sich auf. Wer es zu bewältigen sucht, indem er es seinen gegenwärtigen Schritten unterordnen will, tut gut daran, seine Kräfte nicht bei den ersten Atemzügen zu verschwenden. Verführerisch bietet sich das Losstürmen an. Wer diesem Werben, der viel versprechenden Aussicht auf einen raschen Erfolg nachgibt, der endet in atemloser Erschöpfung.
In den eineinhalb Minuten, bevor die Snaredrum als Versprechen auftaucht, türmen sich im Klang der Ziehharmonika Geschichte und Geschichtsmissbrauch auf, Klischees und jene bitteren Wahrheiten, die diese Klischees erst ermöglichen. In den Tönen der Ziehharmonika schwingt mit, was im deutschen Sprachraum „Volkskultur“, „Volksgut“, „Volkslied“ genannt wird ‒ und was allein des historischen Umgangs mit den Worten und wegen einer daraus resultierenden Überfrachtung mit Deutungen schon etwas grundsätzlich anderes, etwas weit schwerer zu Fassendes, weit schwieriger zu Bestimmendes und nur mühsam theoretisch Einzugrenzendes ist, als das, was die Anglophilen musikalisch simpel unter „Folk“ subsumieren.
„Volks“-Irgendwas wird weithin so genannt, weil es dafür keine besseren, im deutschsprachigen Kulturkreis vor allem aber keine unbelasteteren Vokabeln gibt. Ein Geröllfeld von Missverständnissen und Missachtung, von politischem Missbrauch erhebt sich vor uns. Manifest wird dieser Missbrauch gewachsener Traditionen in der Ideologie der Nazis ebenso wie im Wirken zeitgenössischer Brauchtumswächter oder durch die ablenkende Verkitschung der Reproduzenten einer Heile-Welt-Lüge in den volkstümlichen Unterhaltungsfabriken.
Auf diesem gefährlichen Geröll aus erfundener Reinheit und leicht verkäuflicher Idylle rutscht man schnell ab, saust talwärts, wo die ewigen Bewahrer der ausgedachten Reinheit ihr Quartier genauso aufgeschlagen haben wie jene, denen alles nicht weit genug von ihrem geografischen Daheim und den damit verbundenen historischen und sozialen Verwerfungen entfernt sein kann, damit sie es überhaupt gut finden können.
Nähe ist ganz pfui, die Ferne eine überwältigend verlockende Schönheit. Und beim schweifenden, so weltgewandten Blick in dieser Ferne entsteht die Mystifizierung – allein schon aus Unkenntnis – leicht. Wer aber hier auf dem Hausberg abrutscht, der bleibt mit gebrochenem Genick liegen. Ein gefährliches Terrain ist die Heimat, wo ernsthaft mit ihr gespielt wird.
Nach zwei Minuten, die Hälfte der Strecke ist erreicht, holt die Ziehharmonika noch einmal tief Luft. So als suchte sie nach einer letzten Chance, in ihrem angestammten Gebiet bleiben zu können. Als wehrte sie sich gegen das Drängen aus dem Hintergrund, von dem sie nun zum Mittel gemacht wurde, mit dem sie gegen ihre eigene Welt anrennen muss. Aber es ist schon zu spät. Sie kann nicht widerstehen. Längst rüttelt von draußen heftiger Wind am Fenster. Der Gitarrist steht bereit für seinen Einsatz. Ein letzter Atemzug noch und dann bekommt der Klang der Ziehharmonika einen neuen Bestimmungsort.
Hubert von Goisern ‒ Biografisches
Hubert von Goisern wurde am 17. November 1952 im oberösterreichischen Bad Goisern unter dem bürgerlichen Namen Hubert Achleitner geboren. Sieben Jahre Wanderschaft durch das südliche Afrika, Kanada und Asien. 1983 Rückkehr nach Österreich und Studium an der Musikhochschule Wien. 1987 Gründung der „Alpinkatzen“ und Beginn der Dekonstruktion alpiner Volksmusik. 1992 musikalischer Durchbruch. Hubert von Goisern gilt als Erfinder des sogenannten „Alpenrock“ und als prononciertester Vertreter der „Neuen Volksmusik“. Zahlreiche musikalische Projekte im Spannungsfeld zwischen Welt- und Volksmusik, zwischen Tradition und Moderne. Seine Tourneen und musikalischen Reisen führten ihn quer durch Europa, die USA, in den arabischen Raum, nach Tibet und wiederholte Male nach Afrika. Darüber hinaus entwarf er Mode, wirkte als Schauspieler an Filmprojekten mit, schrieb Filmmusik (u. a. für Joseph Vilsmaiers Literaturverfilmung „Schlafes Bruder“) und ist nicht zuletzt ein Mann der klaren Worte, wenn es um politische, soziale und ökologische Fragen geht. 2007–2009 tourte er mit einem Frachtschiff, das er zu einer schwimmenden Festivalbühne umbaute, von Linz aus über die Donau zum Schwarzen Meer und über den Rhein an die Nordsee. Über hundert Musiker aus zwölf Ländern nahmen daran teil. Das Logbuch dieser Reise wurde unter dem Titel „Stromlinien“ veröffentlicht. Im Herbst 2011 führte Hubert von Goisern mit „Brenna tuats guat“ fünf Wochen die österreichischen Single-Charts an. Mit seinem im September erschienenen neuen Album „Entwederundoder“ ist er außerdem in den österreichischen und deutschen Albumcharts vertreten. Seit Januar 2012 ist Hubert auf großer Konzerttour durch Österreich, Deutschland und die Schweiz und wurde im Mai bei den Amadeus Austrian Music Awards in zwei Kategorien ausgezeichnet.