#20..Best of 72

Liebe AM-Freunde und Fans ... wir (er)zählen nun rückwärts, nein vorwärts ... aus 72 unglaublich tollen Ausgaben. Täglich... also 72 Tage lang. Wenn wir bei 72 angekommen sind, dann ist auch 73 erschienen und 74 und unser aller Leben findet wieder gemeinsam statt!

 

Dieser Artikel stammt aus akkordeon_magazin, Heft #20 vom Juni/Juli 2011

Mit dem Akkordeon als süffisanter Kronzeuge unterwegs ...

HISS - klang- und wortgewaltige „Zeugen des Verfalls“

Text: Dr. Thomas Eickhoff / Fotos: HISS, Gösta Peter

 

HISS lässt von sich hören und macht von sich Reden: HISS als Band sowie ihr Frontkopf, der Akkordeonist Stefan Hiss, sind nicht nur Meister der Töne, sondern auch der Worte. Denn wer für eine „Negerpolka“ mit einem Plattenvertrag honoriert wird und eine Nominierung  für den renommierten Rio-Reiser-Songpreis einheimst, aber auch mit diesem vermeintlich politisch inkorrekten Titel in einem Schulbuch in einer Unterrichtseinheit wider den Fremdenhass erscheint, der macht eben auf positiv eigenwillige Art von sich Reden. Wortgewaltige Ausdruckshemisphären also, eben durch markante Worte, die in ein eigenwilliges musikalisches Gewand gekleidet sind. HISS steht für eine bizarre Akkordeon-Mischung, die im folkloristischen Urgrund wurzelt, aber auch alle Spielarten des Rock'n Roll, Blues, Country und Lateinamerikanischen einbezieht inklusive Tex-Mex. Ihren Stil nennen die HISS-Mannen auch gern Polka'n'Roll – ja, Polka ist ihre Welt und „Polka für die Welt“ ist ihr Auftrag, hörenswert dokumentiert auf einer formidablen CD, die Polka als weltumspannendes Phänomen präsentiert. HISS - die Folkrock-Polka-Band mit treibendem Akkordeon-Motor ...

Verwurzelungen - anno dazumal

Unterwegs sind die mit dem Image der lamoryant-selbstzufriedenen Vagabunden kokettierenden Musiker aus dem Süddeutschen seit Gründungsursprung in Stuttgart anno Frühling 1995. Das Akkordeon als Lead-Instrument, der Gesang von Stefan Hiss sowie die Mundharmonika von Michael Roth bilden das Fundament des typischen HISS-Sounds, der angereichert wird durch Patch Pacher (Schlagzeug, Gesang), Volker Schuh (Bass) und Thomas Grollmus (Gitarren, Mandoline, Gesang). All das gewürzt und delikat eingerahmt von den süperben Conférencen des Namen gebenden Akkordeon-Maestros, dessen Entertainment-Qualitäten bei Fans Kultstatus genießen.

Inzwischen sind die scharfsinnigen Musikanten von HISS zu „Zeugen des Verfalls“ geworden – die HISS-typische Wildwest-Romantik umweht der ironisch gebrochene Hauch von Morbidezza, eingebrannt auf einen gleichnamigen CD-Silberling für die heimische Hörstatt, aber auch live zu erleben in jährlich rund 80 bis 100 Konzerten, die HISS bundesweit auf allen möglichen Bühnen vollführt.

Ohne in apologetisches Fan-Gebaren zu verfallen, sei mit einem nahezu unzweifelhaften Anspruch verkündet: HISS live zu erleben ist fulminant und einzigartig, die Sorgen des Alltags scheinen wie weggeblasen, das glühende Musikantentum reißt die Hörenden und Sehenden in einen wilden Strudel bunter Klänge, die unentrinnbar scheinen und in Worten kaum zu beschreiben sind. Dennoch soll hier ein Versuch unternommen werden, den Konzert-Kosmos von HISS in einer live-Reportage verbal zu illuminieren.

Ein Konzerterlebnis - eine Reportage

Ein Raunen und die Spannung vor dem Sturm sind in einem arrivierten Jazzkeller zu spüren: HISS ist angesagt und wird angesagt: Eine aparte Frauenstimme, deren Ansage Großes ahnen lässt, tönt mit verführerischem Timbre aus dem Background in den Raum: „Sie spielten vor Präsidenten, Potentaten, Bossen und Banditen ...“ heißt es mit bezeichnend kernig-ironischem Selbstbewußtsein. Und dann kommen sie: Stefan Hiss und seine „Mannen“ bahnen sich den Weg durch’s sitzende und stehende Volk, erreichen die Bühne und legen los: Der mitreißende Polka-Song „Ich hab’ die ganze Welt bereist“ verfehlt ganz und gar nicht seine anstachelnde Wirkung, die erste Musiknummer wirkt wie ein Senkrechtstart und elektrisiert nach den ersten Takten die Zuhörer; da wird gleich mitgewippt, Tanz-Anflüge machen sich breit und es wird textgenau mitgesungen. Nach diesem Stimmungskick gleich zu Beginn ergreift Stefan Hiss in seiner unverwechselbaren Art das Wort und mimt den schmierigen Conférencier. Das Hiss’sche Pathos umfasst mit großen Gesten und Worten den Raum, denn der akkordeonspielende Band-Kopf verkündet: „Wir geben Euch, was Ihr braucht und wovon wir zuviel haben: Liebe!“ Stefan Hiss suhlt sich geradezu in den Ansagen, die in ihrer kultverdächtigen Manier und Masche das Publikum mehr als nur erheitern: breites Grinsen bis zum Lachanfall scheint die Regel zu werden bei jenem Konzertabend im Spannungsfeld zwischen Weltmusik und Heimatklängen, zwischen Texas und Transsylvanien, Blues und Polka, Schmutz und Schmalz. Die fabulösen Mitmusiker starten heftigst durch und sind bestens disponiert, haben sichtlich Freude an der Performance und werfen sich voller Verve die Bälle nur so zu. Als der Song „Männer in der Nacht“ erklingt, entfacht die Blues-Harp von Michael Roth bei einigen Gästen Hör-Ekstasen und man hörte aus der ein oder anderen Ecke über Roths Klangexzesse Phrasen der Euphorie wie „Der ist einfach nur geil“. Und in der Tat: HISS’ irrwitziges Gebräu aus Zydeco, Polka, World und Country sprüht Funken in alle Richtungen und zündet. Die Mundharmonika schlägt Kapriolen wie verrückte Bogenstriche einer Fiddel, überbordendes Zirpen und Girren dank des wahnsinnigen „Zungenschlags“ von Michael Roth, der wie ein Balz-Ritus inmitten williger Gespielen wirkt. Koketterie mit ironisch-vulgärem, jedoch verbal ausgezirkeltem Beigeschmack ist von HISS durchaus beabsichtigt. Die Liebeserklärungen sind von speziellem Eigensinn, wenn es heißt: „So wie Du traf ich noch keine zwischen die Augen, die Beine, ins Herz.“ Solche Texte singen selbst einige anwesende Kinder voller Begeisterung mit! Anzügliche Frivolität wechselt dabei mit Herrn Hiss’ griffig-treffenden Ansagen zur „Lage der Nation“; ob Koma-Saufen der Jugendlichen in den Städten, wo das folglich in Ecken und Winkeln Erbrochene den schöngeistigen Tourismus zu stören scheint, oder der Hauch von Sozialkritik in anderen mannigfachen Andeutungen – HISS kennt kein thematisches Tabu - im Gegenteil: Die Ansagen sind verbale Steilvorlagen für die Musiknummern, die schließlich in einem ausufernden Medley kulminieren. Keine Übertreibung: Das gnadenlos angeheizte, HISS-typische Stil-Konglomerat bringt die Stimmung zum Kochen. Trotz orgiastischen Klanggebarens bleibt dennoch die Klangwelt stets transparent und HISS gelingt durchweg die sensible Akzentuierung und Umsetzung bestimmter Stilanteile – mal mehr Zydeco, dann mehr Folk oder fast experimentelle Pop-Welten mit jaulender E-Gitarre, die von einer souverän beherrschten Musizierhaltung künden – und das bei einem dominierenden Wechselspiel von Akkordeon und Mundharmonika.

Nachdem HISS über den Verkauf einer Villa an Julio Iglesias vor sich herspinnt, als handele es sich bei jenen abstrusen Gedankenfäden um Seemannsgarn, findet der aufregende Konzertabend in jenem Ambiente, wo Herr Hiss eigentlich eher die „Freunde des Jazzes“ wähnt, einen stimmungsvollen und würdigen Beschluß: „Hebt Euer Glas und trinkt auf die Toten“ – ein hymnischer Kehraus, in dem HISS nochmal morbiden Charme verströmt und an das Ende gemahnt – nicht nur an das endgültige, sondern auch an das jenen Abends, an dem eigentlich noch niemand so richtig gewillt ist Schluß zu machen. Und als nach der Zugaben-Euphorie die HISS’sche Truppe schlußendlich in die hinteren Gemächer entschwindet, atmet der erregte Hörer ob seiner HISS-Enthusiasmen in der Ruhe nach dem Sturm erstmal durch ...

„Zeugen des Verfalls“ - für das heimische Ohr als CD

Wer HISS konzertant erlebt hat, wird auch eine heimische Nachlese auf CD nicht verschmähen. Beim klangvollen Silberling „Zeugen des Verfalls“ beschreiben sich jene Mannen, die da am Werk gewesen sind, in ominösen und doch typischen Versen selbst: „Wer scharfe Augen hat kann sehen, welch tiefe Furchen der eisige Wind osteuropäischer Steppen in ihre Gesichter gezogen hat. Wie ihre Haut von der unbarmherzigen Sonne des karibischen Meeres versengt wurde. Wie sie von Abenteuern und Entbehrungen gezeichnet wurden.“ Auch in diesen markanten Zeilen wird deutlich, dass es wahrlich schwierig ist, ein griffiges Etikett für HISS zu finden. Es sind jene Umschreibungen, die den Jargon widerspiegeln, der stets bei Live-Darbietungen mit ironischem Pathos aus dem Munde von Stefan Hiss als Kopf der Formation ertönt; jene Sentenzen, die so häufig zwischen wahrem Leben und einfallsreicher Legendenbildung schwanken. Und in dieser Gratwanderung besteht genau der Reiz von HISS, die – scheinbar wind- und wettergegerbt – viel in der Welt herumgekommen sind. Davon scheint nicht zuletzt auch ihre Musik zu künden, wie bedeutungsschwer erläutert wird: „Wer scharfe Ohren hat, hört aber auch, dass sie noch von jedem Stück Erde, das sie betraten, Klänge und Rhythmen mitgebracht haben. Dass sie auch in Momenten größter Gefahr aufmerksam lauschten, welche Musik da in allen Winkeln der Welt erklingt.“ Laut eigener Aussage der fünf Mannen von HISS bilden „Balkan-Blues und Texas-Tango, Quetschen-Ska, Ethno-Swing und Fast-Folk, fremde und vertraute Klänge“ die musikalische Grundlage für ihre Geschichten über die großen Themen „Liebe, Leid und Lebenslust, Sünde, Sucht und Suppe“. Wer also trotz des schwarzen Themas einen lamoryanten Abgesang auf’s Krisenzeitalter erwartet, hat sich wahrlich verschätzt. Gleich Track 1 der CD, der Titelsong „Zeugen des Verfalls“, überfällt den Hörer mit unbändiger Ausgelassenheit, die trotz zuweilen skurril-morbider Anarcho-Texte, zumeist aus der Feder von Stefan Hiss, dominiert. „Wenn es trocken ist, dann dann sauf ich’s – wenn es fettig ist schieb ich mir‘s in den Hals – heut werd ich mir‘s wieder geben – Hunde wollt ihr ewig leben? Ihr seid Zeugen des Verfalls“, so heißt es da zum Auftakt im fetzig-rockigen Klanggewand, das sich HISS bei quirlig abrollenden Akkordeon-Kapriolen umgelegt hat.

Der „Suppen“-Song wird sogleich im Reggae-Sound serviert, ehe beim nächsten Titel in Manier eines adretten Musette-Walzers organische Lebensphänomene in drei Strophen mit Schlüsselwörtern wie „Lunge, Darm, Herz“ auf den Punkt gebracht werden. Und wer spätestens beim sechsten Song mit dem Titel „Das Rehlein“ noch immer ein zartes Wild im Bambi-Look vor Wald- und Wiesenhorizont erwartet, ist wieder auf HISS hereingefallen. Denn „Das Rehlein“ wird bei Michael Roth, dem famos umherwirbelnden Bluesharp-Spieler, zum akkordeongewürzten Turbo-Springer im „prestissimo“. Alle Musiker von HISS verstehen ihr Handwerk vorzüglich, so dass den zumeist von Stefan Hiss und Michael Roth erdachten Songs in Form klanglich eindrucksvoller Arrangements auf hohem Niveau Rechnung getragen wird. Die CD ist reif wie eine sonnenverwöhnte Frucht, die in eben allen Winkeln der Erde gewachsen sein könnte. Mal südamerikanisch angehaucht („Baila Pendejo“) oder – wie es für weit gereiste Musiker halt typisch ist – mit Anklängen westlicher Country-Road-Klänge („Raus“). Das Konzept des Albums geht nicht nur auf und überzeugt, sondern macht wirklich Spaß. So wie die anregenden Live-Auftritte, die man sich nach dem Hören der Studio-Einspielungen jener Songs von „Zeugen des Verfalls“ herbeisehnen mag.

Über die Grenzen der Gewöhnlichkeit hinaus

Wer HISS von Angesicht zu Angesicht erleben konnte weiß: Die Band hat in den letzten Jahren bundesweit ein Stammpublikum gewonnen, das viele Lieder aus vollem Halse mitsingt. Menschen, die HISS an diesem oder jenem Abend zum ersten Mal sehen und hören, können sich kaum halten vor Begeisterung über den respektlosen Umgang mit den herzzerreißenden Themen Liebe und Tod. „Mit Rock‘n‘Polka ist die Band angetreten; und hat inzwischen einen eigenen Musikstil kultiviert, und perfektioniert, der in der Musikszene seinesgleichen sucht“, wie die Stuttgarter Zeitung berichtete.

Die Medienwelt ist umso stärker auf HISS aufmerksam geworden; neben eigenen CDs und einer live-DVD wirkte die Folkrock-Polka-Band 2007 bei dem Spielfilm „Zur Sonne“ mit, bei dem HISS selbst im Mittelpunkt einer fiktiven Geschichte steht.

Fiktiv und realistisch zugleich, über die Grenzen der Gewöhnlichkeit hinaus – das ist HISS. Zumal, wenn man sich die Worte des Akkordeonleaders Stefan Hiss vergegenwärtig, der gleich einem Kronzeugen unter den „Zeugen des Verfalls“ süffisant beschwört:

„Um jeden Ton haben wir gekämpft, um jedes Wort haben wir nächtelang beim Schein eines Talglichts gerungen, denn wahre Kunst erlaubt nun mal keine Kompromisse. Ein solcher Prozess ist leider aufwändig und zeitraubend.“

Soviel Zeit auch ins Land geht oder gegangen sein mag – mit HISS vergeht die Zeit dann eigentlich doch wie im Fluge, Herr Hiss ...!

 

 

Hier ist ein YouTube-Video mit HISS

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