Dieser Artikel stammt aus akkordeon_magazin, Heft #17 vom Dezember/Januar 2010/2011
„Mezzanotte“ - eine mitternächtliche Begegnung mit Ulrich Tukur
Text/Fotos: Dr. Thomas Eickhoff; Deutsche Grammophon / Universal
Der schwarze Vorhang umwallt das dunkle Bühnenszenario, die Tanzkapelle ist platziert – und plötzlich dringen aus dem Hintergrund Klänge eines Akkordeons in den schweigenden Saal. Klänge, wie man sie aus der Ferne von einem Straßenmusikanten zu vernehmen meint, der in einer Mischung aus nächtlicher Einsamkeit und morbidem Charme seinem Dasein Ausdruck verleiht, durch einige aus dem Balg gepresste Töne einer „Quetschkommode“ ... einer ganz, ganz kleinen, wie sich herausstellt. Derjenige, der das Instrument da mit entzückender Passion traktiert ist als Schaupieler weltbekannt, als Musiker aber mindestens ebenso engagiert und ambitioniert. Es ist Ulrich Tukur, der das Lied „Il vecchio frack“ des italienischen Komponisten Domenico Moduno intoniert und sich dabei mit dem kleinen Hohner-Hüttenakkordeon begleitet, niedlich und unheimlich zugleich. Noch schweigen die Herren der Kapelle, doch die Atmosphäre des Abends breitet sich aus – es ist Mitternacht, italienisch: „Mezzanotte“. So der Titel einer neuen CD, die das von Tukur schauspielerisch und musikalisch brillant entfaltete Bühnenprogramm des Abends kondensiert – eine mitternächtliche Begegnung mit wiederentdeckten italienischen, französischen, englischen und deutschen Chanson- und Unterhaltungspetitessen vergangener Jahrzehnte. Eine kurios, melancholisch und finster anmutende Reise in die verlockenden, abgründigen und romantischen Sphären der Nacht. Es zeigt den Schauspieler und Musiker Tukur mit selten von ihm so hinreißend furios, mysteriös und komödiantisch dargebotenem Entertainment, bei dem sich das kleine Akkordeon als stets treuer Begleiter des schauspielenden Sängers erweist. Aber was denn nun: Schauspieler, Sänger oder Akkordeonist? Das kann man bei Tukur so genau nicht sagen – es ist die Melange! Ulrich Tukur als einen der gegenwärtig wohl bedeutendsten deutschen Schauspieler vorzustellen hieße Eulen nach Athen tragen. Seine Strahlkraft als Mime ist international – ob auf der Bühne des klassischen Theaters oder auf den Filmstreifen der Traumwelt Hollywoods. George Clooney war sein Filmpartner in Soderberghs „Solaris“, seine prägnante Rolle im oscarprämierten Stasi-Drama „Das Leben der Anderen“ brannte sich ein – aber den Part des charmant-perfiden SS-Schergen in „Inglourious Basterds“ (für den Christoph Waltz letztlich den Oscar erhielt), musste Tukur gegenüber Kultregisseur Quentin Tarantino leider absagen. Der Grund: Liebe und Verpflichtung zur Musik. Denn Ulrich Tukur wollte seine eigene Kapelle, „Die Rhythmus Boys“, bei einer fest eingeplanten Tournee aus existentiellen Gründen nicht auf der Strecke lassen und zeigte so verantwortungsbewußt – dabei aber ganz unprätentiös - musikalisch-moralische Verbindlichkeit. Neben Bühne und Kino ist auch das Fernsehen sein Feld: Als neuer Tatort-Kommissar war er am 28. November in der ARD zu erleben. Seine Schauspielrollen durchziehen musikalische Einlagen, wie zuletzt noch in Dieter Wedels ARD-Zweiteiler „Gier“, wo Tukur den Millionen-Betrüger Dieter Glanz gab, der die Finanz-Society während einer Gartenparty musikalisch unterhält – auf dem Akkordeon! Kaum zu fassen: Auf dem internationalen Parkett der illustren Medienwelt des Showbusiness, den glamourösen Promi-Welten von Cannes bis Hollywood findet das Akkordeon bei Ulrich Tukur einen vertrauten Platz! Nicht ohne Grund – denn es ist tief verwurzelt in seiner Schauspieler-Karriere, die in den Anfängen maßgeblich von der Regie-Legende Peter Zadek (1926-2009) gefördert wurde. Nach Zadeks Tod im Sommer 2009 erwies Ulrich Tukur seinem Mentor bezeichnenderweise eine musikalische Reminiszenz, indem er ihm auf seiner Beerdigung zwei Liedchen auf dem Akkordeon zum Abschied spielte. Es waren jene Lieder, die er Zadek 26 Jahre zuvor in München bei einem Vorsprechen vorgetragen hatte. Damals verhalfen sie Tukur zur Rolle des schillernden Sturmbannführers Kittel in Zadeks legendärer Inszenierung von Joshua Sobols „Ghetto“, dem Auftakt von Tukurs Theaterkarriere. „Kannst du noch mehr?", hatte Zadek damals beim Vorsprechen gefragt – und Tukur hatte mit „Nein“ geantwortet. Bis dahin war man überall der Ansicht gewesen, dass der Junge ja ganz nett auf seinem Akkordeon zu spielen verstehe, aber als Schauspieler bestenfalls mäßig begabt sei. Eben bis Peter Zadek kam und ihn „auf den Topf setzte“, wie Tukur selber über diese Zeit sagt. Und die Geschichte „mit Zadek und dem Akkordeon“, so wird kolportiert, dürfte Tukur vermutlich deswegen so lieben, weil sie auf den Punkt bringt, wie er selbst sich sieht. Was liegt demnach näher, als Tukur direkt nach seinem „Lieblingsinstrument“ zu befragen? Gemäß seiner aktuellen Befindlichkeit natürlich um Mitternacht - bei Wein und Flammkuchen, in einem loungigen Restaurant vis-à-vis des Konzerthauses Dortmund ...
Ulrich Tukur im Gespräch mit Thomas Eickhoff
Lieber Herr Tukur, wie würden Sie sich als Schauspieler und Musiker, der Akkordeon spielt, selbst beschreiben ...?
Sagen wir mal so: Als einen herrlich dilettantischen, effektiv hochstapelnden, musikbegeisterten, schwitzenden Praterwurstl mit Fortune und einer verzweifelten Liebe zum Leben.
Wie sind Sie eigentlich zum Akkordeon gekommen?
Als junger Germanistikstudent der Tübinger Universität hatte ich eine Seminararbeit über Kurt Tucholsky abzuliefern, deren undankbare theoretische Ausarbeitung ich zwei Kommilitoninnen übertrug, um mit meinem Kollegen Herrn Mayer (der heute noch mein Guitarrist ist) für die musikalisch-sinnliche Präsentation zu sorgen. Ein Klavier in den Seminarraum zu schieben, wäre zu aufwendig gewesen. Also kaufte ich mir für 40 DM eine gebrauchte Hohner Student und brachte mir das Akkordeonspielen bei. Das Referat war ein großer Erfolg und wir liefen sofort auf den Marktplatz und begannen eine sehr erfolgreiche Straßenmusikerkarriere.
Welche Bedeutung hat dieses Instrument für Sie?
Als ein Instrument des fahrenden Volks und der Menschen, die mit ihm im Gepäck in eine bessere Welt aufbrachen und ein Stück Heimat mitnehmen wollten, immer am Rande der gesellschaftlichen Akzeptanz und nie wirklich ernst genommen, in der traurig-bunten, schrägen Welt des Varietés, der verrauchten Tanzlokale, des Zirkus und der Straße ansässig, hat es mich schon immer angerührt und viel mehr fasziniert als jedes andere Instrument.
Welche Rolle spielt das Instrument für Sie in Ihrem im neuen Programm „Mezzanotte"?
Es ist auf einigen Nummern der Schallplatte zu hören, spielt aber im Gegensatz zu meinen Rhythmus Boys-Einspielungen keine allzu große Rolle. Auf der Tournee setze ich es jedoch stärker ein und präsentiere auch einige Titel nur mit Akkordeon.
Man sagt, dass Sie das Akkordeon auch auf Reisen stets begleitet ...
Ich habe vor Jahren ein Hohner Hüttenakkordeon aus dem Jahre 1934 erworben, das einen höllischen Krach macht und mit mir bis nach China geflogen ist. Wenn die alte Dame schwächelt, reist eine rotgeschminkte Borsini Vagabund an ihrer Stelle.
Wer sind Ihre akkordeonistischen Vorbilder, Idole?
Das sind die großen französischen Musette-Virtuosen, die auch im Swing und Jazz wilderten, allen voran Gus Viseur, der allerdings Belgier war. Heinz Munsonius und Albert Vossen haben mich aber am meisten beinflusst. Wie sehr (und vergeblich) habe ich versucht ihren Stil zu imitieren!
Sie leben in Venedig. Gibt es dort für Sie spezielle „lokale Beziehungen“ oder Berührungspunkte mit dem Instrument?
In Venedig weniger. Das ist keine Stadt des Akkordeons, es sei denn, es handelt sich um neapolitanische Importe. Ich lebe aber auch in einem kleinen Bergdorf in den nördlichen Apeninnen. Dort gibt es noch eine ziemlich lebendige Akkordeonszene. Im Sommer finden überall an den Wochenenden Dorffeste statt, die „Ballo liscio“ heißen. Dann wird zur Musik einer Akkordeonkapelle getanzt und getrunken, so wie man das auch heute noch in manchen Ausflugslokalen am Ufer der Marne findet. Das sind aber allesamt verwehende Phänomene.
Welche Akkordeonvirtuosen der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit schätzen Sie besonders?
Ausser den bereits erwähnten: Hubert Deuringer und Art van Damme.
Wie verorten Sie das Akkordeon im Kosmos der Musikinstrumente?
Ein Instrument von notorisch unterschätzter Tiefe und Potenz. Ein ewiger Aussenseiter, der dort nicht hingehört. Mein leider viel zu früh verstorbener Freund Jefim Jourist, einer der weltbesten Bajan-Akkordeonisten, wäre mit seinem musikalischen Talent und der Beherrschung seines Instruments als Pianist reich und berühmt geworden.
Hat das Instrument eine Zukunft?
Es hat eine Zukunft. Es hat die Jahre seiner größten Krise, glaube ich, hinter sich. Es gibt junge Leute, die sich wieder für dieses sonderbare Instrument interessieren, die moderne Musik damit machen, ihr Lebensgefühl damit ausdrücken, und wie alle Menschen, die es spielen, eines schätzen: Daß sie nämlich ein Orchester in der Hand haben, das man überall hintragen kann.
Halten Sie das Instrument für populär?
Was für eine Frage! Es ist eines der populärsten Instrumente überhaupt. Die gesamte süd- und mittelamerikanische Volksmusik ist ohne das Akkordeon und seine stolze Schwester, das Bandoneon, nicht zu denken. Aber auch unsere Volksmusik, die einzige, die sich mit Recht überhaupt so nennen darf, die in Oberbayern und im angrenzenden Österreich wunder- und würdevolle Vertreter hat (die mit der verkommenen Industrieproduktion nichts, aber auch gar nichts zu tun haben), ist ohne die „Quetschkommode“ nicht zu denken.
Was könnte oder müsste man tun, um das Akkordeon für die Jugend vielleicht noch interessanter, attraktiver zu machen?
Schwer zu sagen. Die Lösung liegt aber sicher nicht im Bluejeanslook ...
Lieber Herr Tukur, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!
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