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Dieser Artikel stammt aus akkordeon_magazin, Heft #13 vom April/Mai 2010
Renzo Ruggieri
Der eigene Weg zum Akkordeonspiel
Text: Katja Brunk, Fotos: www.renzoruggieri.com
Der 1965 geborene Italiener Renzo Ruggieri ist einer der führenden Vertreter der Italienischen Jazz-Szene. Vom Duo bis zum Jazz-Orchester – er ist überall zu finden. Als erster Jazz-Akkordeonlehrer Italiens gründete er den „Club Voglia d'Arte“, eine Organisation von Musikschulen, die eine von ihm entwickelte neue Unterrichtsmethode anwendet. Neben seiner Tätigkeit als Lehrer arbeitete er mit vielen großen Künstlern zusammen, darunter beispielsweise Enrico Rava, Art Van Damme oder Fabrizio Bosso. Das akkordeon magazin sprach mit ihm über seine Musik, sein Leben und den Jazz in Italien.
akkordeon magazin: Herr Ruggieri, wie kamen Sie auf die Idee, Jazz auf dem Akkordeon zu spielen?
Als ich 18 Jahre alt geworden war, hörte ich auf, Akkordeon zu spielen und widmete mit dem elektronischen Keyboard und modernen Arrangements. Ich nahm mit einem Gitarrenspieler die LP „Jazz Fusion“ auf und das Endergebnis machte mir klar, dass ich noch nicht bereit war, Jazz zu spielen. Nach dieser Erkenntnis suchte ich einen Lehrer und fand Franco D'Andrea, einen sehr bekannten italienischen Klavierspieler. In der Zeit, als ich bei ihm Unterricht nahm, machte ich eine sehr lange Tournee über anderthalb Jahre mit einer Theatershow. Während ich Jazz-Piano studierte und Akkordeon bei Live-Konzerten gleichzeitig spielte, merkte ich, dass ich meinen Jazz-Stil auf dem Akkordeon noch weiter entwickeln musste. Als ich die Jazz-Kurse beendet hatte, schrieb ich eine „Jazz-Methode“ für Akkordeon. Ich eröffnete die erste Schule für Jazz-Akkordeon in Italien und veröffentlichte 1998 meine erste CD, „Improvvisazioni Guidate“. Das war die erste komplett improvisierte CD in der Akkordeon-Welt.
Spielen Sie auch heute noch mehrere Instrumente?
Mit 20 spielte ich Piano- und chromatisches Akkordeon, Klavier, elektronisches Keyboard und ein kleines bisschen Gitarre. In diesem Alter dachte ich, Musikmachen passiert im Kopf und nicht in den Fingern... Heute spiele ich nur noch Piano-Akkordeon und versuche, ein neues, großes Instrument zu spielen: mein Orchester.
Sie spielen in vielen Besetzungen, vom Duo bis zum Orchester. Welche Besetzung mögen Sie am liebsten?
Gerade im Moment fühle ich, dass das Orchester meine Lieblingsbesetzung ist. Aber das kann in Zukunft auch wieder anders sein. Die Musik, die ich in meinem Kopf habe, ist einfach für einen großen orchestralen Sound gedacht. Aber als Kontrast liebe ich es auch sehr, komplett improvisierte Solokonzerte zu spielen. Es ist wundervoll, frei von Regeln zu sein. Aber wenn ich solch ein Konzert beendet habe, bin ich sehr müde.
Am Orchester mag ich den Sound. Ich mag es, wenn einzelne Phrasen durch verschiedene Stimmen wandern. Im Orchester habe ich eine Rhythmusgruppe, die die Musik voran bringt und eine Gruppe – Saxofone, Trompeten, Streicher etc., also die Melodieinstrumente – die polyphone Melodielinien einbringen. Diese Form ist perfekt für mich, denn ich möchte gerne meinen „italienischen Jazz“ verwirklichen, bei dem Jazzharmonien in eleganter Weise auf Melodien treffen.
Beim solistischen Spielen liebe ich die Möglichkeit, jeden Moment einfach alles ändern zu können. Keine Regeln, kein Repertoire... alleine Herz, Verstand und Kreativität. Vielleicht auch Spiritualität... ich denke oft an Gott während meiner Improvisationen.
Was macht Ihre eigene Lehrmethode aus?
Ich habe dafür einen Mix aus klassischen Werken und modernen Jazz-Stücken geschaffen. Ich habe diese Herangehensweise getestet und meine persönliche Meinung hinzugefügt. Viele Jazz-Schulen legen ihren Schwerpunkt oft auf die Theorie und vergessen dabei die technischen Anforderungen und Entwicklung. Oder sie haben zu hohe Anforderungen an den Schüler. Ich habe mit meiner Methode versucht, diese Probleme zu beheben.
Als Vorgehensweise habe ich eine Methode entwickelt, die sich in fünf Punkte unterteilen lässt. So arbeite ich jede Unterrichtsstunde sehr konsequent und kann mich bei jedem Punkt auf diese eine Sache konzentrieren. So kann der Schüler die einzelnen Schwierigkeiten besser verstehen und seine Hausaufgaben und eigenes Üben besser strukturieren.
Ist Jazzakkordeon mittlerweile genauso bekannt und beliebt wie klassisches und traditionelles Akkordeon?
Ich denke schon. Heutzutage – nach Piazzolla und Galliano – wird das Akkordeon mit anderen Augen gesehen. Auch von den Akkordeonspielern selbst. Vielleicht ist jetzt gerade der richtige Zeitpunkt für Akkordeonisten, die neue Dinge entdecken wollen... In dieser kleinen Welt gibt’s es viele Dinge zu entdecken, viele Worte zu sagen und viele Klänge zu spielen!
Gibt es viele Schüler, die gezielt Jazzakkordeon lernen wollen?
Ich denke, ja! Aber natürlich sind es schon weniger als beim traditionellen oder klassischen Akkordeon und weniger als Jazz-Piano, Gitarre, Saxofon oder so. Aber in den letzten Jahren ist die Akkordeon-Schule stark gewachsen. Das Problem der Akkordeonisten ist, dass sie sehr oft klassische oder Popmusik hören und spielen... das ist dann eine extreme Situation.
Ich arbeite oft an grundlegenden Dingen. Mit den traditionellen Akkordeonisten muss ich viel an der Technik arbeiten oder generell am Einsatz des Akkordeons. Mit den Klassikern übe ich viel die Herangehensweise an die Musik... sie haben oft Angst zu spielen und Angst, in sich selbst hinein zu sehen. Generell ist es sehr schön zu sehen, wenn ein Akkordeonist verstanden hat, dass Jazz zu spielen nicht bedeutet, amerikanischen Swing zu spielen, sondern wenn er anfängt, seine eigene persönliche Musik zu finden.
Was sind Ihre nächsten Projekte?
Momentan nehme ich gerade die erste CD mit Orchester auf. Dabei geht es um ein interessantes Stück (traditioneller Jazz) rund um den italienischen Komponisten Gorni Kramer. Er war während dem Zweiten Weltkrieg sehr berühmt. Ich fand einen alten Koffer voll mit seinen Arrangements in seinem alten Haus und habe die Werke für mein Orchester im Big Band-Stil bearbeitet.
Daneben bin ich auf der Suche für die nächsten Projekte: Ich plane ein spezielles Orchesterprojekt rund um italienische Oper... für Streicher mit Jazztrio und Akkordeon. Ich habe dafür sozusagen eine neue Formel entwickelt, die ich „Music with text for comment“. Dafür habe ich eine Geschichte zusammengesetzt, die aus verschiedenen Begebenheiten und Charakteren aus Toska (Alfredo), Barbiere di Siviglia (Figaro) und von Tosac (Tosca) besteht. Die Geschichte ist original, aber mit meinen persönlichen Einflüssen, zum Beispiel gibt es zwei Finale. Die Komposition ist von mir, aber es finden sich viele Zitate aus den drei Werken.
In Zukunft will ich auch an einem Projekt arbeiten, das ich „Music Extended“ nenne. Dafür habe ich alle grundlegenden musikalischen Parameter wie Melodien, Harmonien, Rhythmus, Form und Besetzung geändert und nutze eigene Regeln, mit denen jeder arbeiten kann. Das ist sehr interessant. Ich weiß nicht genau warum, aber ich warte auf eine spezielle Gelegenheit, das zu entwickeln. Allerdings warte ich schon zehn Jahre darauf...
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