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Dieser Artikel stammt aus akkordeon_magazin, Heft #09 vom August/September 2009.
Jean-Louis Matinier
„Aufgeschlossen zu sein, ist immer gut.“
Text Klaus Härtel, Fotos Thomas Radlwimmer
Es gibt ja diese Menschen, bei denen man vom ersten Kennenlernen an das Bedürfnis hat, mit ihnen privat mal ein Bier trinken zu wollen. Menschen, die einem vom ersten Augenblick einfach nur sympathisch sind. Der französische Akkordeonist Jean-Louis Matinier ist einer dieser Sorte Mensch. Schon das äußere Erscheinungsbild wirkt auf Anhieb positiv. Es ist kaum vorstellbar, dass der sympathische Lockenkopf einmal ärgerlich, böse oder gar laut werden könnte. Ein Streitgespräch wird das nicht. Die Lachfalten um die Augen verschwinden selbst dann nicht, wenn er gar nicht lacht. Und auch das Musizieren, das Verharren in höchster Konzentration wirkt bei dem 46-jährigen Franzosen nicht verbissen, sondern sprüht geradezu vor Leichtigkeit. Da scheint sie wieder bestätigt, die Fähigkeit der Franzosen, das Leben zu genießen. Ist das Savoir-vivre?
Klischees eben. Und doch entbehren solche ja zumeist nie völlig der Realität. Und als ob man nach weiteren Beweisen suchte, erwähnt Jean-Louis Matinier gleich zu Anfang des Gesprächs, dass es in der Gegend, aus der er stamme – geboren ist er in Nevers in der Bourgogne – einen sehr guten Weißwein und natürlich guten Käse gebe: „Sehr zu empfehlen!“ Und während man noch darüber grübelt, wie man denn das mit der französischen Sprache hinbekommt und in alten Sprachkursunterlagen wälzt, überrascht Jean-Louis Matinier mit hervorragendem Deutsch – was so gar nicht in das vorgefertigte Franzosenklischee passen will. Doch da ist Matinier sehr eigensinnig. Zwar übt er sich in Understatement („Mein deutsch ist sehr schwach.“), doch er ist in keiner Weise davon abzubringen, das Interview mit einer deutschsprachigen Zeitschrift auch auf deutsch zu führen (Unter uns gesagt: glücklicherweise).
Andere Wege kennenlernen und entdecken
Dass Jean-Louis Matinier deutsch spricht, ist für ihn nicht nur eine Selbstverständlichkeit, sondern gehört wohl zu seiner Philosophie, die auch und vor allem die Musik betrifft. Zunächst hatte der französische Musiker nämlich klassische Musik studiert, sich dann aber dem Jazz und anderen Formen improvisierter Musik zugewandt. Warum? „Ich denke, es ist notwendig und sehr wichtig, auch andere Wege kennenzulernen und zu entdecken“, erklärt er diese Wahl. „Aufgeschlossen zu sein, ist immer gut.“
Ein Gipfeltreffen der Musik
Aufgeschlossen ist Jean-Louis Matinier definitiv. Den verschiedenen Sprachen, den unterschiedlichen Genres und den Ideen seiner Mit-Musiker. Aktuell und eindrucksvoll ist das auf der CD „Silver & Black“ (Enja / ENJ-9536 2, ab 21. August) zu hören, die der Akkordeonist gemeinsam mit Michael Riessler und Howard Levy im Stadthaus Ulm eingespielt hat. Drei Virtuosen (und Freunde), bekannt für ihre sehr individuellen Wege zwischen Genres und Stilen, haben sich hier zum Gipfeltreffen zusammengefunden: Michael Riessler aus Deutschland, der unter anderem für Kagel, Cage, Lachenmann und Stockhausen die Klarinette spielte und zugleich die „folklore imaginaire“ erkundete, hat sich längst in der vordersten Linie der globalen Improvisationsszene etabliert, Howard Levy aus den USA, der Welt fortgeschrittenster Spieler auf der (diatonischen) Mundharmonika, war Feature-Solist zum Beispiel bei Bela Fleck, Paul Simon, Willy Schwarz, Holly Cole, Rabih Abou-Khalil, Dolly Parton oder Bobby McFerrin sowie bei vielen anderen Musikern zwischen Klassik und Country, Latin und Pop – und eben Jean-Louis Matinier aus Frankreich, führender Akkordeonist des europäischen Jazz und der Weltmusik.
"Musik zu teilen macht großen Spaß“
Dass es zu solch einem Gipfeltreffen kommen würde, war Jean-Louis Matinier spätestens bei der Arbeit zu Michael Riesslers „Honig und Asche“ klar. Da nämlich lernte er Howard Levy kennen. „Ich habe Michael Riessler im ,Orchestre National de Jazz' in Paris kennen gelernt. Von 1989 bis 1991 haben wir beide zwei Jahre dort gespielt. Es war offensichtlich, dass wir ein Trio spielen würden.“ In ihrer universellen Musiksprache, die zum Beispiel auch Bach, Blues oder Weltmusik umfasst, entwickeln Riessler, Levy und Matinier einen neuen Sound und ein neues ästhetisches Konzept. Der Klang der Durchschlagzungen von Mundharmonika und Akkordeon verschmilzt dabei trefflich mit Riesslers schnarrender Bassklarinette, was dem Ensemble ein seltenes, voller Überraschungen steckendes Timbre verleiht. Ausgehend von ganz unterschiedlichen Kernideen aller drei Spieler startet das Trio zu abenteuerlichen, humorvollen Flügen der musikalischen Fantasie, getragen von tänzerischen Rhythmen und dem Spaß am Spielen. Die Musik ist deutlich geprägt von Interaktivität zwischen den Musikern. Ist es dem Akkordeonisten wichtig, mit mehreren zu Musizieren und nicht allein? Der bejaht das voller Begeisterung: „Musik zu teilen macht großen Spaß. Es ist wie bei einem Gespräch. Manchmal hat man sich viel zu sagen, manchmal gar nichts. Manchmal hat man interessante Themen, manchmal belanglose. Das ist wie im richtigen Leben. So wie du dich gerade fühlst. Die Interaktivität ändert sich in jedem Konzert! Ab und zu spiele ich zwar auch gerne als Solist, doch zur Zeit suche ich mehr die Ausgeglichenheit in der Musik – vielleicht werde ich ein bisschen alt...“
Der Glaube an die Musik
Die Kompositionen des Franzosen sind überaus einfallsreich und er wendet sein Instrument vielseitig an. Die Inspirationen dafür bekommt er in der Natur und der „Welt in der wir leben“. Vielleicht spielt da auch die „ruhige und unbeschwerte“ Kindheit auf dem Lande eine Rolle. Jean-Louis Matinier wuchs an der Loire in der Nähe von Sancerre und Pouilly auf. „Den ersten Kontakt zur Musik hatte ich durch meinen Vater, der Geige spielte. Mein erstes Akkordeon bekam ich einmal zu Weihnachten – als Spielzeugakkordeon.“ Von da an war es um ihn geschehen. Doch erstaunlicherweise sieht er sich nicht unbedingt als „Anwalt des Akkordeons“: „Absolut nicht. Nein. Ich drücke mich mit Noten aus. Ich benutze das Akkordeon, um Musik zu machen. Aber das könnte jedes andere Instrument sein. Ich kann das mit Worten nicht ausdrücken. Man muss an die Musik glauben.“ Und das faszinierende am Instrument sei die Tätigkeit: „Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen… schwitzen.“
Die Hauptsache ist, man macht Musik
Das Akkordeon spielt in Frankreich eine nicht unbedeutende Rolle. Im Chanson als Begleitinstrument und vor allem in der Musette, dem populären Genre französischer Unterhaltungsmusik im Dreivierteltakt, kommt man an diesem Instrument kaum vorbei. Welchen Stellenwert hat denn das Akkordeon in Frankreich, wollen wir von Jean-Louis Matinier wissen. Darüber scheint sich der 46-Jährige noch keine Gedanken gemacht zu haben: „Ob es einen positiven oder negativen Stellenwert hat? Die Hauptsache ist doch, dass damit Musik gemacht wird, oder?“
Und Musik macht Matinier. Jede Menge. Jeder Art. Er hat unter anderem mit Louis Sclavis, Gianluigi Trovesi, Michel Godard, François Couturier, Philippe Caillat und Anouar Brahem aufgenommen und arbeitet auch aktuell mit einigen dieser Musiker zusammen. Zudem ist er auch Begleiter von Juliette Gréco – gemeinsam mit Gérard Jouannest, dem Komponisten von Jacques Brel. „Erst im Juni haben wir im ,Theatre des champs elysees' in Paris gespielt. Auf dem Programm standen die Chansons der neuen CD ,Je me souviens de tout' (Ich erinnere mich an alles). Juliette und Gérard sind wunderbare Menschen. Mit ihnen zusammen zu arbeiten ist ganz einfach großes Glück“, erzählt Jean-Louis Matinier.
Der Mann, so scheint es, ruht in sich selbst. Für ihn ist es offensichtlich das größte, Musik zu machen. Und das mit Menschen, die er schätzt und die er mag. Und bescheiden ist er noch dazu. Selbst wenn er drei Wünsche frei hätte, einer würde ihm vollkommen reichen: „Ich möchte in aller Ruhe in Bayern die Glühwürmchen beobachten.“
▷ Hier ist ein YouTube-Video mit Jean-Louis Matinier
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