#05 ...Best of 72

Liebe AM-Freunde und Fans ... wir (er)zählen nun rückwärts, nein vorwärts ... aus 72 unglaublich tollen Ausgaben. Täglich... also 72 Tage lang. Wenn wir bei 72 angekommen sind, dann ist auch 73 erschienen und 74 und unser aller Leben findet wieder gemeinsam statt!

Dieser Artikel stammt aus akkordeon_magazin, Heft #05 vom Oktober/November 2008.

Die wilden Männer der Ukraine holen aus zum zweiten Schlag 

Haydamaky vermischen gekonnt Ska, Punk und ukrainische Folklore

Text: Christian Brössler; Fotos: eastblok records

Der Zauber der Ostromantik lässt die Welt nicht mehr aus seinen Fängen. Spätestens seit dem Erscheinen von Wladimir Kaminers „Russendisko“ ist der nämliche Stil zu einem Siegeszug durch die Welt aufgebrochen, und er lässt sich wohl nur mit jenem von Sushi durch die westliche Küche vergleichen. Etwas fasziniert den Durchschnittseuropäer an der slawischen Seele, die so leicht vor Wut überkocht, wie sie vor Trauer gefriert. Nicht zuletzt ist auch ein klein wenig Neid mit im Spiel: Die mitteleuropäische Ordnung beneidet die östliche Lebensfreude.

Mächtig Staub aufgewirbelt

Die Bandgeschichte von „Haydamaky“ und vor allem ihres Vorläufers „Aktus“ beginnt 1990, direkt nach der Unabhängigkeit der Ukraine. Auch dort ließ sich nun weltoffener agieren und der Ska-Punk von „Aktus“ wirbelte den Staub des Kiew-Undergrounds mächtig auf. Die damalige Besetzung schaffte es neben Tourneen durch osteuropäische Clubs auch zu einigen Auftritten in Norddeutschland. Ein wirklicher Durchbruch gelang trotzdem nie. Erst mit dem Einstieg des charismatischen Sängers Olexandr Yarmola und des Akkordeonisten Ivan Leno änderten sich die Verhältnisse. Der Sound wurde vielseitiger, Folkeinflüsse lockerten die ungestümen Gitarre/Bass/Schlagzeug-Arrangements auf und bestimmten zunehmend die Songs. Und die Posaune von Ruchlan Trochynsky rückte in den Vordergrund.

Punk trifft Folklore

Mit dem Konzept der Mischung von ukrainischen Volksmusiken auf der Basis weltweit gültiger Ska-, Reggae- und Rocksounds richtet sich die Band sehr bewusst gegen die auch bei ihnen grassierende Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse. Im Extrem trifft rotziger Punk-Zorn auf selbstbewusst integrierte Melodien aus den ukrainischen Regionen Polissya, Bukovyna und Zakarpattya – ein erfrischendes Gebräu. Der ursprüngliche Punk-Geist von „Aktus“ lodert also noch, und die deftige Ska-Beimischung funktioniert als cleverer Brückenschlag zum Karpaten-Folk. Yarmola: „Unser Bandname geht zurück auf eine ukrainische Rebellion im 18. Jahrhundert. Wir sehen uns heute als so etwas wie Rebellen für die eigene Kultur.“ Haidamaken nannte man die Bauern und Kosaken im ukrainischen Bauernaufstand gegen die Feudalherrschaft im 18. Jahrhundert. Der Spirit, die Tänze und die Musik der Haidamaken sind eine wichtige Inspirationsquelle für Haydamaky, doch sie kreuzen die traditionelle ukrainische Folkmusik aus den Karpaten und der Bucovina-Region mit westlichen Klängen, wie Punk, Reggae und Dub. Ein neuer Stil ist entstanden – Karpaten-Ska. Ihre ganz eigene Klangwelt zwischen Archaik und Moderne ist meilenweit vom slawischen Schlager-Pop-Mainstream der Ukraine entfernt.

Kraftstrotzend und enthusiastisch

Und das Neue Deutschland fragte besorgt: „Womit muss man rechnen, wenn man diese CD ins Abspielgerät einlegt? Ein barbarisches Trommelfeuer auf zivilisierte westliche Ohren? Ukrainisch-nationalistische Hassgesänge? Triefende Folklore?“ Die Zeitung gab die Entwarnung selbst: „Nichts von alledem. Die sechs modernen Haidamaken fallen zwar kraftstrotzend und enthusiastisch, aber überaus friedlich über uns her. Nicht konserviert werden in ihrer Musik die überlieferten Tänze und Klänge der historischen Haidamaken, sondern lustvoll verfremdet. Das ist weder ein ungelenker Brückenschlag noch verbitterter Kampf zwischen Archaik und Moderne, gar zwischen urwüchsigem Osten und postmodernem Westen – das ist pure Lust an der Musik.“

Dichter und Sänger ihres Volkes

Nun holen die wilden Männer der Ukraine zum zweiten Schlag aus. Der Name des Albums: „Kobzar“. Früher zogen diese meist blinden Sänger wie die mittelalterlichen Troubadoure von Ort zu Ort, spielten die Bandura, die traditionelle ukrainische Zither, und sangen ihre Balladen von ruhmreichen und freiheitlichen Kosakenzeiten. So ist der Kobzar auch zu einem Sinnbild des ukrainischen Bewusstseins geworden. Der Nationaldichter der Ukraine Taras Schewtschenko schrieb bewusst auf Ukrainisch, das vor 150 Jahren noch als Bauernrussisch verpönt war. Schewtschenko ist der Goethe der Ukraine und die Gedichtsammlung Kobzar ist sein Faust - eine Sammlung von Gedanken und Bildern, die ein ganzes Zeitalter und die Stimmungen der menschlichen Seele in Verse bannt.

In dieser Tradition sehen sich auch Haydamaky – als Dichter und Sänger ihres Volkes. Nur eben mit ihren (lauteren) Mitteln. Berühmt geworden in den Tagen der Orangen Revolution, zählen Haydamaky inzwischen zu den bekanntesten und beliebtesten Bands in der Ukraine; und das ohne Zugeständnisse an den radio- und TV-freundlichen Mainstream. Sie überzeugen lieber durch ihre eigene musikalische Meisterschaft. Endlich gibt es mal wieder positive Schlagzeilen aus der Ukraine.

Viel hat sich getan, seit Haydamaky vor fast zwei Jahren ihr erstes Album weltweit veröffentlicht haben. Nach Ukraine Calling folgten unzählige Konzerte in Westeuropa, Einladungen zu Festivals, Fernsehreportagen und Beiträge zu diversen Compilations. Kürzlich waren Haydamaky auch bei Hubert von Goiserns Linz-Europa-Tour mit von der Partie. „Ich brauche keine Partner, die sich hinter ihren Traditionen wie hinter einem Schild verstecken, sondern solche, die von ihren Traditionen angefeuert werden“, sagte der Österreicher bei einer Pressekonferenz. Womit er mit Haydamaky ja genau die richtigen getroffen hatte. Zunächst aber lud von Goisern die ukrainischen Journalisten zum Rundflug mit der DC-6 über Kiew ein. „Das ist Wahnsinn - dein Gesicht schmückt ein Flugzeug“, sagt der Manager von Haydamaky zu dem Österreicher auf dem Rollfeld, „Ich wünschte, mein Gesicht würde ein Flugzeug zieren.“ Die ukrainischen Fotografen lichteten derweil Olexander Yarmola, den Haydamaky-Sänger vor dem Flugzeug ab. Denn Hubert von Goisern kannte hier niemand.

Vertreten werden Haydamaky vom Label Eastblok Music mit Sitz in Berlin. Und das Label durfte einen Top World Music Label Award in Empfang nehmen - nicht zuletzt aufgrund der Dauerpräsenz von „Ukraine Calling“ in den europäischen Weltmusik-Charts. Dabei ist Weltmusik nur eine Seite Haydamakys. Was ist das überhaupt? Bei Haydamaky nichts weiter als eine tiefe Liebe zu ihrem Land und dessen Kultur. Vor allem der ukrainische Folk, speziell aus den Karpaten, hat es ihnen angetan. Die wilden Männer sind tief in das überlieferte musikalische Erbe der Ukraine gestiegen und weben die alten Melodien in ihre Songs. So ist es nur konsequent, die Bandura, das Instrument der Kobzaren, neben Mandoline, Trompete, Flöte (Sopilka) und Akkordeon in den kräftigen Folksound von Haydamaky einzubinden.

Doch Haydamaky – das ist auch Rock’n’Roll! Mit Schlagzeug, Gitarre und Bass steht die Rockwand, an die die ukrainischen Ornamente projiziert werden. Auch ihre Punkwurzeln sind noch immer präsent. In diesem Spannungsfeld erzeugen Haydamaky ihre magischen Epen. Mal ausgelassen tanzend, mal tief berührend mit ihren feinsinnigen und musikalisch komplexen Balladen. Viele dieser Songs sind Ohrwürmer ohne oberflächlich zu sein: aufrichtig emotional oder wilde Freude verströmend. Doch die Band geht weiter und integriert auch auf Kobzar wieder Dub und Ska sowie gar Rap in ihr Spektrum. Mario Activator, Polens berühmter Reggae- und Dub-Produzent, der unter anderem schon mit Adrian Sherwood gearbeit hat, sorgt für einen modernen Sound und hat auch Krysztof Grabowsky von der polnischen Kultband Pidzama Porno ins Studio geholt, um auf Message zu singen. Die jamaikanischen Ragga-Toaster Zion Train wiederum mixen Viter Viye. So klingt Haydamakys Vision von Weltmusik: ein Brückenschlag vom Früher ins Jetzt.  Die Kobzaren sind wieder unterwegs. Doch heute rocken sie.

▷ Hier ist ein YouTube-Video mit Haydamaky (2012)

▷ Hier findest du die Digitalausgabe des Heftes